Migration findet statt

Kindheit und Migration

Kinder haben ihr Leben in der Fremde nicht gewählt. Im Spannungsfeld von Politik, Sprachen, Traditionen und Religionen müssen sie ihren persönlichen Weg finden, um mit den Widersprüchen zu leben, mit denen sie konfrontiert sind.

Die wachsenden sozialen und politischen Konflikte weltweit führen dazu, dass immer mehr Menschen ihre ursprüngliche Heimat verlassen, um sich einen neuen Lebensraum zu suchen. Diese Entscheidung treffen viele Erwachsene auch für ihre Kinder: in der Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft.

Doch gerade die Kinder leiden unter dem Verlust des Vertrauten. Sie verlassen ihren Kulturraum und lassen sich in der Fremde nieder: an einem Ort, dessen Spielregeln sie nicht kennen und dessen Sprache sie nicht beherrschen. Ihre Wissbegierde hilft ihnen aber, sich an diesem neuen Ort provisorisch einzurichten.

So werden sie oft zu Dolmetschern zwischen dem Gastland und ihren Eltern. Die Rollen innerhalb der Familien vertauschen sich. Kinder übernehmen innerhalb der Familien Führungspositionen ein, und sind damit überfordert. Die Eltern hingegen schämen sich, dass sie ihre Kinder nicht genügend beschützen können. Traumatische Erlebnisse aus der Vergangenheit verschärfen die Krise der Migration.

Jede Sprache hat ihr eigenes Schweigen

Mit seinen fünf Standorten an sozialen Brennpunkten in Wien betreuen die Mitarbeiter des Institutes für Erziehungshilfe Kinder und Familien in Krisensituationen. Rund 50 Prozent der Klienten haben einen Migrationshintergrund.

Die Psychotherapeutische Praxis wird zu einem sozialen Labor. Hier werden Begegnungen möglich, hier lassen sich Ängste artikulieren und Gefühle ausdrücken. Selbst dann, wenn die Therapeutin und das Kind nicht die gleiche Sprache sprechen. Die Menschen hören auf den Subtext. Sie suchen die Botschaften, die hinter den Worten liegen. Im unmittelbaren Gefühl für die Situation agieren der Therapeut und das Kind spielerisch und finden so eine Gemeinsamkeit.

Denn in der Kommunikation mit dem anderen sind non verbale Zeichen, die Körperhaltung und die Mimik genau so wichtig wie das gesprochene Wort. Erinnerungen und Assoziationen überlagern den Augenblick.

Kultur verbindet

Mit der Migration verbunden ist der Wechsel in ein anderes Land, in einen neuen Sprachraum, in eine noch unbekannte Kultur. Diese Kultur ist aber niemals in sich abgeschlossen oder statisch, sondern prozesshaft und dynamisch. Und: Sie bietet Kommunikationsmöglichkeiten an. Das Kulturelle trennt nicht, sondern verbindet.

Die psychotherapeutische Arbeit bezeichnet Ruth Kronsteiner als methodisch gelenkte Beziehungsarbeit. Darum ist es für Therapeuten wichtig, sich mit ihrem Kulturbegriff auseinanderzusetzen. Denn sowohl der Therapeut wie der Klient projizieren auf ihr Gegenüber stereotype Vorstellungen.

Diese beeinflussen den therapeutischen Prozess - und zwar unkontrolliert. Erst wenn sich der Therapeut über seinen Kulturbegriff im Klaren ist, kann er nicht nur Gemeinsames betonen sondern auch nach den kulturellen Unterschieden fragen.

Angstfreier Raum

Auch der Israelische Psychologe und Analytiker Yecheskiel Cohen arbeitet mit Traumapatienten. Er hat in Jerusalem das B’nai B’rith Residential Treatment Centre aufgebaut und über 40 Jahre lang geleitet. In dieser Institution entwickelte er ein integriertes Behandlungskonzept für traumatisierte Kinder und Jugendliche, das er in seiner viel beachteten Publikation: "Das misshandelte Kind" veröffentlichte.

Migration an sich muss aber nicht zur Traumatisierung führen, erklärt Yecheskiel Cohen. Und zwar dann nicht, wenn ein Kind trotz äußerer Gefahren Geborgenheit und Liebe in seiner Familie erfährt: das Einssein mit den Eltern und Geschwistern in der bedrohlichen Situation von Flucht und Migration. Diese Erfahrung hat Yecheskiel Cohen in seiner therapeutischen Arbeit integriert.

Traumatisierte Patienten haben das Grundvertrauen verloren, mit einem anderen Menschen verbunden zu sein. In ihrem Leben regiert die Angst vor Verletzung und Zerstörung. Die basale Arbeit des Therapeuten ist es dann, mit dem Patienten einen Raum zu gestalten, der angstfrei ist und in dem sich der Patient wieder entfalten kann.

Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, Mittwoch, 29. Oktober 2008, 21:01 Uhr

Buch-Tipp
Yecheskiel Cohen, "Das misshandelte Kind", Brandes & Apsel

Links
Institut für Erziehungshilfe
Hemayat