Wer war Mustafa Kemal?
Atatürk
Wer war der Mann mit Lammfellmütze, dessen Bildnis noch heute in der Türkei allgegenwärtig ist? Klaus Kreiser ist es mit seiner Atatürk-Biografie gelungen, diese Frage mit wissenschaftlicher Akribie auf knapp 300 Seiten erschöpfend zu beantworten.
8. April 2017, 21:58
Gespickt mit Detailinformationen wird in diesem Buch der Lebensweg jenes Mustafa Kemal geschildert, der 1881 als Sohn kleiner Leute im damals noch osmanischen Thessaloniki auf die Welt kommt. Der Autor beschreibt, wie der hochbegabte Mustafa seine entscheidende Ausbildung an Militärschulen erhält - wobei strategisches Denken, gepaart mit Beharrlichkeit, bereits früh als Charaktermerkmale Mustafa Kemals gelten dürfen. Kreiser entwirft das Bild eines radikalen Individualisten, der sich von Jugend an zu Höherem berufen fühlt: So schließt er sich im Jahr 1906 - als 25-Jähriger - dem revolutionären "Komitee für Einheit und Fortschritt" an, aus dem das "jungtürkische Regime" hervorgehen wird; Mustafa Kemal verfolgt aber sehr bald eigene Ziele.
Seine steile militärische Karriere samt den Erfolgen im Ersten Weltkrieg werden ebenso spannend beschrieben wie sein Aufstieg "vom Strategen zum Politiker", welcher 1919, mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, beginnt. Vom anatolischen Hochland aus organisiert Mustafa Kemal Pascha, wobei der Titel Pascha jedem Offizier ab dem Rang eines Generals zusteht, den nationalen Widerstand gegen die Westmächte und gegen die Griechen, deren Traum von der Wiedereroberung Kleinasiens er im türkischen Befreiungskrieg zerstört. 1923 erkennen die Alliierten seine Gegenregierung im anatolischen Ankara an. Mustafa Kemal proklamiert die Republik Türkei und wird ihr Präsident - mit dem Ziel, einen durch und durch neuen Staat zu schaffen, befreit von den ideologischen Einflüssen des Islam und sonstigen Arabertums.
Nützliche Freundschaften
Von Jugend auf hat Kemal ein intensives Netz von Freundschaften geknüpft hat, das ihm nun nützen soll: Diesen seinen Vertrauten erläutert er seine Reformvorstellungen schon zu einem Zeitpunkt, als deren Umsetzung noch in weiter Ferne liegt: Abschaffung von Sultanat und Kalifat, Verbot von Turban, Fes und Gesichtsschleier und die Latinisierung der bis dato arabischen Schrift - all das diktierte er einem Weggefährten schon 1919. Dessen Reaktion ist als Selbstzeugnis überliefert:
Ich sah ihm ins Gesicht, und auch er blickte mich an. (...) Als er sagte: "Warum hältst Du ein?", antwortete ich: "Pascha, nimm es nicht übel, aber Sie neigen manchmal zu Fantasien." Da lachte er: "Das wird die Zeit erweisen (...)"
"Sie sollen werden wie ich"
Auch Ehrgeiz und ein hart an Hochmut grenzendes Selbstbewusstsein gehören zu Kemals Charakterbild, das der Autor in vielen Einzelheiten noch ausmalt. Während eines Kuraufenthaltes 1918 in Karlsbad vertraute der spätere "Vater der Türken" zum Beispiel seinem Tagebuch an, wie er die ersehnten gesellschaftlichen Umwälzungen in seiner Heimat umsetzen wolle. Von Überzeugungsarbeit in der Bevölkerung hielt er nicht viel, vielmehr schwebte ihm ein sorgfältig vorbereiteter Staatsstreich vor.
Nachdem ich so viele Jahre höhere Studien betrieben und das zivilisierte und soziale Leben untersucht habe, um die Freiheit ein wenig kennenzulernen (...), soll ich auf die Stufe der einfachen Leute herabsteigen? (Nein), ich werde sie auf meine Stufe heraufholen, ich möchte nicht wie sie werden, sie sollen werden wie ich.
Eine Gleichsetzung nationalen Willens mit der eigenen Person nennt das der politische Biograf.
Durchgepeitschte Reformen
Atemberaubend mitzuerleben ist dann das Tempo, mit dem Mustafa Kemal als Staatspräsident seine Reformen durchpeitscht, alle auf Europäisierung und Säkularisierung des Lebens ausgerichtet, wobei die Abwendung vom Islam schon mit dem Ende der Militärschulzeit zu datieren sein dürfte - als sich der junge Offizier mit dem französischen Positivismus und modernen europäischen Gesellschaftslehren zu beschäftigen begann.
Besonders anschaulich wird die Schrift- und Sprachreform, ein spezielles Anliegen des selbsternannten Kulturrevolutionärs, geschildert. Um dem Volk die lateinischen Lettern beizubringen, reist er höchstpersönlich durchs Land. Sein Furor, die türkische Sprache auch inhaltlich von allem Arabischen zu befreien, ging bisweilen ins Groteske; etwa 1934, als der Staatspräsident beim Besuch des schwedischen Thronfolgers in Ankara einen Toast auf König Gustav V. ausbrachte.
Die Tischrede bestand fast nur aus brandneuen Wortschöpfungen (von denen sich so gut wie keine durchsetzte), und die Anwesenden werden nicht viel mehr Wörter als die schwedischen Besucher verstanden haben: Güstav, Altes Ruvayal (Altesse Royal) und prenses (Prinzessin).
Eine Art der Diktatur
Der laut Klaus Kreiser visionäre Egomane hatte kaum Zeit für Privates: Eine Ehe dauert nur zwei Jahre - und die Kluft zwischen Realität und Vision hatte schon der Offiziersanwärter mit Alkohol zu bekämpfen versucht. Die Alkoholabhängigkeit des "Vaters der Nation" nimmt mit den Jahren zu: 1938 stirbt er, nur 57 Jahre alt, an Leberzirrhose.
Der Turkologe Klaus Kreiser, der sich im Übrigen zugute hält, als außen stehender Wissenschaftler unbelastet urteilen zu können, wägt das politische Resümee seiner Biografie sorgsam ab: Die Alleinherrschaft von Atatürks Republikanischer Volkspartei (CHP) zwischen 1925 und 1946 etwa sei als "moderne Autokratie", ihr Führer als eine Art "Oberlehrer" zu sehen, sein Regime aber nicht mit anderen Diktaturen jener Zeit vergleichbar, schon mangels jeglicher imperialistischer Ausrichtung.
Einsichten und Erklärungen
Die Diskriminierung nichtmuslimischer Minderheiten, vor allem der Kurden, von Atatürk rigoros betrieben, und die fortdauernde Leugnung des Völkermordes an den Armeniern sind zweifellos dem höchst problematischen Teil seines autokratisch-nationalistischen Erbes zuzurechnen.
Das Buch ist, vor allem wegen seiner zwar imponierenden, manchmal aber auch erdrückenden Detailfülle, welcher der Autor sprachlich nicht immer Herr wird, keine "Nachtkastel-Lektüre". Aber man wird für zeitweilige Mühsal mit vielen Einsichten und Erklärungen belohnt: vor allem dafür, weshalb die "Dialektik des Bewahrens und des Wandels", von Atatürk entfacht, auch 70 Jahre nach seinem Tod die türkische Gesellschaft nicht zur Ruhe kommen lässt.
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Klaus Kreiser, "Atatürk. Eine Biografie", C. H. Beck