Moskau 1937
Terror und Traum
Das stalinistische Russland gebannt in das Brennglas eines Jahres: 1937. Der Osteuropa Historiker und Soziologe Karl Schlögel beschreibt in seinem Buch das Lebensgefühl dieser Zeit, in der Terror und Traum aufeinandertreffen.
8. April 2017, 21:58
Moskau 1937: Das ist für den Osteuropa-Historiker Karl Schlögel ein "Geschichtszeichen im Sinne Kants", ein Knotenpunkt, an dem die Fäden des historischen Geschehens zusammenlaufen. Schlögel hat die Tragödien des stalinistischen Terrors ausgehend von diesem Jahr 1937 auf gut 700 Seiten aufgeblättert und vor der Folie der Kulturgeschichte und den Wegmarken der Realisierung des sowjetischen Traums gegengelesen.
Das Buch ist ein Panorama der sowjetischen Hauptstadt im Aufriss, ein Streifzug von Bühne zu Bühne des politischen und gesellschaftlichen Geschehens, in das Brennglas eines Jahres gebannt - so der Anspruch des Autors.
Die Grenzen erzählbarer Geschichte
Wie stellt man diesen Malstrom, diesen Wirbel der Geschichte, diesen Hexensabbat aber dar, wie macht man ein Räderwerk des Terrors für die Nachwelt fassbar, wie erklärt man ein Lebensgefühl, die Innenansicht einer Zeit, an die es für jene, die nicht dabei gewesen sind, ohnehin nur eine vage Annäherung geben kann?
Gerade, wenn wir festhalten an der Überzeugung, dass Geschichtsschreibung auf Erzählung und Erzählbarkeit angewiesen bleibt - und dass nicht die Erzählung am Ende ist, wie die Postmoderne proklamiert hat, sondern nur eine bestimmte Ideologie von der "Großen Erzählung" -, dann werden wir im Falle "Moskau 1937" ganz besonders die Grenzen der erzählbaren Geschichte zu spüren bekommen, umso mehr, als es sich nicht um eine Stadtgeschichte im üblichen Sinn handelt.
Der Meister und Margarita
Zwar lädt die sowjetische Geschichte zur Konstruktion einer magischen 7er-Zahlenreihe ein - hat sie doch mit der revolutionären Aufbruchsstimmung der Oktoberrevolution 1917 begonnen und mit der offiziellen Verkündung der Perestrojka auf dem Plenum des ZK der KPdSU im Jänner 1987 durch Gorbatschow ihr Ende eingeläutet. Dennoch erscheint der Fokus auf dieses eine Jahr 1937 als dämonischer Gegenpol und Tiefpunkt auch etwas artifiziell, mehr eine willkürliche Klammer, die eigentlich ein ganzes Jahrzehnt im Blick haben müsste und in diesem Buch letztlich auch hat.
Zum Beispiel: "Der Meister und Margarita". Bulgakov hat an diesem 1940 vollendeten und beinahe 30 Jahre später erschienen Roman ein Jahrzehnt lang gearbeitet. Warum dieses Buch "unmittelbar mit dem Jahr 1937" verknüpft ist, wie Schlögel schreibt, führt der Autor nicht zureichend aus. Richtig ist aber, dass dieser Roman "auch der beste Führer ist, der uns in eine Epoche zurückbringt, zu der die Nachgeborenen nur schwer einen Zugang finden".
Spannend ist, wie Schlögels Beschäftigung die Grenzen herkömmlicher Geschichtsschreibung sprengt, wie er das Material erweitert, etwa am Beispiel dieses Schlüsselromans für eine ganze Epoche.
Historisches neu mitgeteilt
Schlögels Opus magnum ist ein gelungener Versuch, den Grenzen der Erzählbarkeit von Geschichte methodisch anders zu begegnen, Historisches neu mitzuteilen. Er regt dazu an, den historischen Blick zu verändern. Und er zieht ungewöhnliches Material heran, etwa das Moskauer Adressbuch als Abbild einer Topographie der Macht und des Verschwindens von Menschen, oder Tagebuchaufzeichnungen aus unterschiedlichsten Milieus, seitenlang unkommentiert aneinandergereiht.
1937, das ist das Jahr der Eroberung der Arktis durch ein wissenschaftliches Expeditions-Team auf einer driftenden Eisscholle als Spektakel für die Öffentlichkeit über ein ganzes Jahr hinweg, das ist das Jahr des 17. Internationalen Geologenkongresses, der in Moskau stattfindet und Anlass gibt, die Dezimierung der Zunft durch Verhaftungen während der 1930er Jahre Revue passieren zu lassen. 1937, das ist der Baubeginn des babylonischen Turms in Moskau, des nie realisierten Palastes der Sowjets; 1937, das ist der 100. Todestag Puschkins, ein Anlass, den Nationaldichter zu rehabilitieren, der nach der Revolution als reaktionärer aristokratischer Klassenfeind "vom Dampfer der Gegenwart" gestoßen worden war, wie es Majakovskij formuliert hatte.
Bekanntes neu zusammengesetzt
Anhand einer ungeheuren Zahl thematischer Bezüge lässt sich die Atmosphäre der 1930er Jahre wiedergeben: Verhaftungen, Prozesse und Verurteilungen, eine Welt des Gerüchts und der diffusen, ständig präsenten Angst inmitten des Aufbruchs in eine utopische Zukunft.
Der Sprechakt braucht neben einem Sender auch einen Empfänger, wie das in der Kommunikationswissenschaft heißt. Und die Rezeption dieses Buches ist für oberflächliche Kenner dieser Zeit harte Arbeit, da sie sich ja die Bezüge und Referenzen zum Teil erst erschließen müssen. Für jene, die mit russischer Geschichte und speziell mit dieser Epoche einigermaßen vertraut sind, bringt der Band hingegen keine wirklich neuen Erkenntnisse oder eine spannende Theorie, er setzt vielmehr Bekanntes neu zusammen: eine Kulturgeschichte in 3D-Version.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Karl Schlögel, "Terror und Traum. Moskau 1937", Hanser Verlag