Eine wissenschaftliche Arbeit

Coming of Age in Second Life

Die tatsächlichen Nutzerzahlen der frei gestaltbaren, virtuellen Welt "Second Life" haben sich 2008 verdoppelt. Der Anthropologe Tom Boellstorff hat heuer nach mehrjähriger Forschungsarbeit das Buch "Coming of Age in Second Life" veröffentlicht.

Der Titel des Buches "Coming of Age in Second Life" von Tom Boellstorff ist eine Anspielung auf das 1924 veröffentlichte Buch "Coming of Age in Samoa" von Margaret Mead, das die moderne Anthropologie bis heute prägt. Zu einem Standardwerk könnte auch "Coming of Age in Second Life" werden, denn es ist die erste große wissenschaftliche Arbeit über ein grafische virtuelle Welten, die einerseits ein neues Phänomen sind, aber auch Vorläufer - etwa die textbasierten Multi-User-Dungeons - haben.

Die Definition von Begriffen

Selbst das, was wir heute mit dem Begriff "virtuell" beschreiben, hat für Tom Boellstorff eine lange Geschichte. "Je nachdem, wie sie den Begriff "virtuell" definieren wollen, gilt er bis hin zu Höhlenmalereien", meint Boellstorff. Er benutzt die Begriffe "virtuell" und "real" nie als Gegensatz.

"Das klingt so, als hätte die 'reale' Welt keine Computer, keine Technologie und keine Kommunikation. Interaktion und Kommunikation in einer virtuellen Welt sind sehr real gemäß jeder Definition, die sie verwenden könnten: So real, wie ein Buch zu lesen, oder so real, wie ein symbolisches System namens Sprache zu verwenden um zu kommunizieren; so real wie ein Telefon zu verwenden oder einfach nur zu sprechen." Dem Begriff der "virtual world" stellt Boellstorff daher die Bezeichnungen "physical world" oder "actual world" gegenüber.

Viele Fragen

Welchen Stellenwert haben Partnerschaften und Hochzeiten in Second Life? Trauerfeiern oder religiöse Veranstaltungen? Wie gehen User mit dem Tod eines Mitmenschen um? Wie sind Familien in Second Life strukturiert, Firmen oder Universitäten? Welche sozialen Normen gibt es? Wie läuft die Rezeption von Musik oder Video in Second Life ab? Welchen Stellenwert hat das Erschaffen von 3D-Konstruktionen? Welche Bedeutung hat Landbesitz? Das sind einige der Fragen, auf die der Anthropologe Tom Boellstorff in seinem Buch "Coming of Age in Second Life" mit wissenschaftlicher Präzision und viel Liebe zum Detail Antworten gibt.

Um sie zu finden, hat der Forscher viel Zeit mit Vertretern einzelner Subkulturen und Gemeinschaften in Second Life verbracht. Zum Beispiel mit den "Furries" - das sind jene Second Life User, die sich entscheiden, als anthropomorphe Avatare zu erscheinen, als Mensch-Tier-Hybride.

Die Furries

Furry-Kultur lässt sich mehrere Jahrzehnte zurückführen auf anthropomorphe Darstellungen wie Mickey Mouse, auf Cartoons. Doch dann gibt es auch eine Identifikation des Menschen mit Tieren, die sich durch die gesamte Geschichte zieht, etwa zum Totemismus, wie ich ihn im Buch beschreibe. Ich würde nicht behaupten, dass es in der gesamten Menschheitsgeschichte eine Furry-Kultur gegeben hätte, denn Furry-Kultur ist nicht das gleiche wie Totemismus. Aber es gab immer Menschen, die sich stark mit Tieren identifizierten. Mit dem Entstehen von virtuellen Welten sind für Menschen neue Möglichkeiten entstanden, die eine solche Identifikation mit Tieren empfinden: erstens eine Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zu bilden, und zweitens eine Repräsentation für sich selbst zu erschaffen mittels eines Avatars, der wie ein Tier oder ein Mensch-Tier-Hybrid aussieht. (Tom Boellstorffs, "Coming of Age in Second Life)

Doch es bleibt nicht bei den Avataren: Furries in Second Life konstruieren, programmieren, sie entwickeln spezielle Umgangsformen und sie finden neue Anwendungen für die virtuelle Welt - vom Tierrechts-Netzwerk bis zur virtuellen Schule für Hundehalter.

Kinderavatare

Schulen sind auch von großer Bedeutung in der Kultur der Kinderavatare - erwachsener User also, die sich entscheiden, ihre Zeit in der virtuellen Welt als Kinder zu verbringen. Tom Boellstorff hat viele Monate mit ihnen verbracht - und weil er Professor an der University of California ist, hat er auch in Second Life als Lehrer einer virtuellen Schule unterrichtet. Die Kinder hätten dabei mit virtuellen Papierkugeln und Kreidestücken geworfen - und erstaunlich viel gelernt.

Als Experiment wollte ich etwas lehren, das die Menschen noch nicht beherrschen würden. Statt also Multiplikation zu unterrichten, etwas wie 'zwei mal zwei ist vier', entschied ich mich dafür, die indonesische Sprache zu lehren. Faszinierenderweise haben diese Kinder - erwachsene User, die als Kinder in Second Life leben - nach einer Stunde, in denen wir ein bisschen mit der Sprache gespielt haben, begonnen, indonesische Sätze zu verwenden - um verschiedenste Dinge zu sagen, wie "Susi ist doof" und darüber zu lachen. Es war ein wirklich interessanter Weg, Second Life zu benutzen: Einen neuen Bildungskontext zu erschaffen; eine Möglichkeit, die in der physischen Welt nicht existiert, um Ressourcen des inneren Kindes anzuzapfen; ein inneres Bildungs-Setting zu erfahren, das den Vorgang des Lernens unterhaltsam und motivierend macht. Und heute - verglichen mit zwei oder drei Jahren zuvor - gibt es eine enorme Menge von Bildungsprojekten, eine enorme Zahl von Schulen und Universitäten in Second Life. Eine Sache, die mir dieses Erlebnis gezeigt hat: Es gibt kreative Wege, Second Life zu nutzen, am die wir am Anfang noch gar nicht gedacht haben. Wege, die Vorteile virtueller Welten generell zu nützen, um Bildung auf neue und interessante Weise zu gestalten.
(Tom Boellstorffs, "Coming of Age in Second Life")

"Zeitalter der Techne"

Immer wieder taucht in Tom Boellstorffs Buch der Begriff "Techne" auf. Das altgriechische Wort heißt auf Deutsch Handwerk oder Kunst - Boellstorff spricht von einem "Zeitalter der Techne", das auch dank virtueller Welten dem Informationszeitalter folgt.

Kreativität war in Second Life von Anfang für viele Menschen sehr wichtig. Und so habe ich mich der griechischen Unterscheidung zwischen Handwerk und Wissen bedient, zwischen Techne und Episteme. Wir sprechen oft vom Informationszeitalter, von Daten, Information und Wissen, also Episteme. Und ich dachte mir: Was ist mit dem Handwerks-Aspekt, mit Techne. Virtuelle Welten zeigen uns sehr stark, dass Techne nicht verschwindet, dass Handwerk und Kunst sehr wichtig bleiben, möglicherweise sogar wichtiger werden, wenn sie den Trend zu Open Source betrachten, zu Skins, zum Modding, zu Blogs, Videoplattformen und alle diese Dinge. Ich habe also diese Geschichte des Erschaffens von der philosophischen Warte betrachtet, vom Blickpunkt eines Michel Foucault oder Dr. Heidegger - und das benützt, um über sehr alltägliche Interaktionen in Second Life nachzudenken: Was ist die Rolle des Handwerks, des Dinge Erschaffens in Technologie, in diesem Wandel, den wir durch das Wachsen virtueller Welten sehen.
(Tom Boellstorffs, "Coming of Age in Second Life")

Neue unabhängige virtuelle Welten

Am Ende seines Buches beschäftigt sich Tom Boellstorff mit den seit 2007 entstehenden Open Source-Abkömmlingen der virtuellen Welt von Linden Lab. Denn Hacker und Hobbyprogrammierer haben den Programmcode der offiziellen "Second Life"-Server nachgebaut.

Zahlreiche von Linden Labs Servern unabhängige virtuelle Welten sind jetzt am Entstehen; diese Welten werden "Open Sim" genannt - und sie sind möglicherweise ein wichtiger Schritt zur Entwicklung eines Standards für frei gestaltbare, grafische 3D-Welten, so wie es auch Standards für das World Wide Web gibt.

Wir sehen nun die Entstehung von Open Sim Welten, die es Universitäten, Non-Profit-Groups, Communities und sogar Einzelpersonen erlauben, entweder ihre eigene kleine virtuelle Welt zu haben, oder Land in einer größeren virtuellen Welt zu besitzen, die sie selbst kontrollieren. Die Zeit, in der virtuelle Welten ausschließlich von kommerziellen Firmen betrieben werden, neigt sich dem Ende zu. Die kommerziellen Betreiber werden nicht verschwinden, doch sie werden nicht mehr die einzigen sein, und das wird sehr interessant.
(Tom Boellstorffs, "Coming of Age in Second Life")

Hör-Tipp
Matrix, Sonntag, 14. Dezember 2008, 22:30 Uhr

Buch-Tipp
Tom Boellstorffs, "Coming of Age in Second Life", Princeton University Verlag

Link
University of California - Tom Boellstorff

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