Gemeinschaft und Identität

YouTube anthropologisch

Fast eine Million Zuschauer verzeichnet auf YouTube der Vortrag des amerikanischen Anthropologen Michael Wesch über das Phänomen YouTube. Diese "bekannteste Vorlesung" in der Geschichte des Videoportals ist eine Hymne auf die Macht des Internet.

Gary Brolsma, ein junger Mann aus New Jersey, wird 2005 zum Cyber-Star. Ein moldawischer Discohit, "Numa Numa", erobert gerade die Welt. Gary Brolsma mag die Nummer 1 der Charts, richtet seine Webcam auf sich und tanzt unbefangen, herzzerreißend komisch vor der Kamera ab, stellt es via YouTube ins Netz - und wird selbst zum Hit. 60 Millionen Mal, so die Zahlen-Legende, werden Menschen Gary Brolsma dabei zuschauen, wie er tanzt und sich des Lebens freut.

Und Unzählige werden es ihm gleichtun, die Kamera auf sich richten, frei vor sich hin choreographieren, das Ganze dokumentieren und auf YouTube veröffentlichen.

Freudenfest und Selbstermächtigung

Für den Anthropologen Michael Wesch gehört Gary Brolsma zu einer der Ikonen in der nunmehr vierjährigen Erfolgsgeschichte von YouTube: "Hier ging es um mehr als bloß einen Tanz. Das war ein Fest, ein Freudenfest. Hier hat die virtuelle Community neue Formen des Austausches, der globalen Netzwerke und Gemeinschaften gefeiert. Hier ging es um Selbstermächtigung."

Am 23. Juni 2008 hielt Wesch einen legendären Vortrag in der Library of Congress, der sich wie ein Lauffeuer im Netz via YouTube verbreitet hat.

Erfolgsgeschichte mit Laien-Darstellern

Am 15. Februar wird das weltweit erfolgreichste Videoportal vier Jahre alt. Pro Tag werden heute über 9.000 Stunden neu produzierter Videos hochgeladen, das entspricht etwa einer Anzahl von 200.000 Drei-Minuten Videos pro Tag.

Die Gemeinschaft der Video-Laien, der surfenden Hunde und zwickenden Babys, der shakenden Teenager und experimentierfreudigen Senioren ist produktiv.

Vernetzter Individualismus

Wie lässt sich der Erfolg von YouTube erklären? Medien entstellen nicht nur, sondern vermitteln menschliche Beziehungen, so lautet die Grundthese von Michael Wesch. Die Modernisierung unserer Gesellschaft hat Gemeinschaften zerfranst, Individuen isoliert. Was wir leben und was wir sehnen, ragt bedrohlich auseinander.

Individualismus und Unabhängigkeit auf der einen Seite treffen auf das nagende Bedürfnis nach Gemeinschaft, Geborgenheit und sozialen Beziehungen auf der anderen Seite. Die Welt ist durch und durch kommerzialisiert, und die Menschen wollen Authentizität, Ehrlichkeit, sehnen sich nach Dingen, die man nicht vermarkten kann.

In diesem Sinne: Neue Medien bringen neue Formen des Austausches, veränderte Vorstellungen von Gemeinschaft und Identität. Jeder der mitmacht, ist das Netz.

Authentizität und Selbstdarstellung

Und dann ist da der Drang, sich selbst darzustellen, mit seiner Identität zu spielen. Der Benutzer alias Videoproduzent agiert vor einem unsichtbaren Publikum, einem leblosen Kameraauge, einem Kasten. Niemand ist da.

"Kontext-Kollaps" nennt man dieses Phänomen. Menschen agieren, ohne zu wissen, wann und wo der Andere sein Tun rezipieren wird. Das führt unter anderem zu gesteigerter Selbst-Reflexivität, aber auch zu ungeniert dargestellter Aggression, zu Gesten der Abwertung.

Im öffentlichen Schauspiel findet das ganze Spektrum menschlicher Untiefen seinen Platz. Die Anonymität des Zusehens, der physische Abstand feuert den Voyeurismus an, macht das Beobachten Anderer möglich, ohne jemanden anzustarren.

Im Netz pflegt man Beziehungen ohne die Last der persönlichen Verantwortung. Zugleich setzt man sich auch und gerade hier der Frage aus: Was ist echt, was ist gespielt?

Zwanglose Kontakte und Hitparade

Michael Wesch ist Anthropologe an der Kansas State University. Er hält Kurse über digitale Ethnographie, mit der Methode der "teilnehmenden Beobachtung" erforscht er Eigenproduktivität und Motive der Benutzer neuer Medien.

Er hat mit seinem Drei-Minuten-Video "The Machine is us/-ing us" selbst einen YouTube-Hit gelandet. Die andere Öffentlichkeit, der informelle Laufsteg, die private Bühne generieren nicht nur Sympathisches und Peinliches, sie schüren auch die Berühmtheitsneurose: Drei Minuten eines Lebens berühmt sein, las man schon in Abschiedsbriefen von Amok-Läufern. Die Ambivalenz des Ver-Öffentlichens ist ungebrochen.

Free Hugs Movement

Berühmt via YouTube wurden auch die "Free Hugs". Ein junger Mann geht mit einem Schild auf der Straße entlang, auf dem steht: "Kostenlose Umarmungen". Er lässt sich dabei filmen. Da sieht man, wie wildfremde Menschen reagieren, wenn sie andere wildfremde Menschen - manche zaghaft, andere stürmisch - umarmen.

Was sich in den Gesichtern abspielt, ist allemal: unerwartetes Glück. Was im ersten Moment an eine Szene aus der "Versteckten Kamera" erinnerte, explodierte zu einem öffentlichen Ritual, einem neuen kulturellen Code, das Bedürfnis nach Berührung und Kontakt mit anderen Menschen auszudrücken. Das Free Hugs Movement war geboren.

Hör-Tipp
Digital.Leben, Montag bis Donnerstag, 16:55 Uhr

Links
YoutTube - Gary Brolsma tanzt
YouTube - Michael Wesch: "The Machine is us/-ing us"

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