Passive Rolle der Bevölkerung
Postdemokratie
Ist es so, dass unsere demokratischen Institutionen zwar weiterhin formal existieren, diese von Bürgern und Politikern aber nicht länger mit Leben gefüllt werden? Diese Meinung vertritt zumindest der britische Politologe Colin Crouch.
8. April 2017, 21:58
Westeuropäer nehmen das demokratische System heute als gegeben an. Sie gehen alle paar Jahre wählen, geben ihre Stimme aus Überzeugung oder oft auch in einer Proteststimmung ab. Aber dann? Genügt das? Und wie fest verankert ist unsere Demokratie wirklich?
Die Demokratie kann nur dann gedeihen, wenn die Masse der normalen Bürger wirklich die Gelegenheit hat, sich durch Diskussionen und im Rahmen unabhängiger Organisationen aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen - und wenn sie diese Gelegenheiten auch aktiv nutzt.
Das schreibt Colin Crouch, Professor für Governance und Public Management an der University of Warwick in Großbritannien, in seinem Buch "Postdemokratie".
Eine apathische Mehrheit
Dieses Ideal (...) setzt voraus, dass sich eine große Zahl von Menschen lebhaft an ernsthaften politischen Debatten und an der Gestaltung der politischen Agenda beteiligt.
Ob sich dieses Ideal je verwirklichen lässt, ist fraglich. Zumindest aber, betont Colin Crouch, gibt es einen wichtigen Maßstab in die Hand, mit dem sich die Befindlichkeit eines demokratischen Gemeinwesens beurteilen lässt. Colin Crouchs eigenes Urteil fällt wenig positiv aus:
Die Mehrheit der Bürger spielt eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf Signale, die man ihnen gibt. (...) Die reale Politik wird hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.
"Die Energie ist anderswo"
Colin Crouch zufolge befinden wir uns auf dem Weg zur Postdemokratie, die für die Umsetzung der Ideale einer echten Demokratie nichts Gutes verheißt: "Ich sage Post-Demokratie und vermeide absichtlich Begriffe wie Nicht-Demokratie- oder Un-Demokratie. Wir haben weiterhin alle Institutionen der Demokratie: Es gibt Meinungsfreiheit, Wahlen finden statt, Regierungen stürzen und neue Regierungen folgen nach. Wir genießen viele Rechte."
Um die Wahl seines Begriffs zu erklären, zieht Colin Crouch einen Vergleich mit dem Begriff "postindustriell": Wir leben heute in einer postindustriellen Gesellschaft, was nicht bedeutet, dass wir keine Industrieprodukte mehr verwenden. Wir sind umgeben davon, "aber die Energie der Wirtschaft ist nicht mehr im industriellen Sektor, sondern im Dienstleistungssektor", so Crouch. "Ebenso gilt: Wir haben noch immer Demokratie, aber die Energie der Politik steckt nicht mehr im demokratischen System, insbesondere nicht mehr in politischen Parteien und Wählern. Die Energie ist anderswo. Die Globalisierung bedeutet, dass die wichtigen wirtschaftspolitischen Themen nicht auf der Ebene des Nationalstaats behandelt werden können, aber der Demokratie ist es nie wirklich gelungen, auf einer Ebene über der des Nationalstaats zu funktionieren. In schwachen Ansätzen passiert das in der Europäischen Union, anderswo auf der Welt gar nicht."
Faust'scher Pakt
Die europäischen Staaten verteidigen nach Ansicht von Colin Crouch ihre Souveränität in den falschen Bereichen. Jedes Land verteidigt diese Souveränität gegenüber den anderen Ländern, opfert sie aber zugleich den multinationalen Unternehmen. Würden sich die Europäer zu mehr Gemeinsamkeit durchringen, könnten sie gegenüber den multinationalen Unternehmen wesentlich erfolgreicher auftreten.
"Es wurde ein Faust'scher Pakt geschlossen", meint Crouch. "Wir wollten die billigen Produkte, dafür verlieren wir Arbeitsplätze und Macht. Das ist der Deal, den wir geschlossen haben. Wir wollten die billigen Jeans, T-Shirts und Schuhe aus China. Dabei sind wir alle zu Komplizen geworden."
Zusammenfassung der Entwicklungen
Auch in der aktuellen Weltwirtschaftskrise sieht Colin Crouch keine Anzeichen für eine echte und sinnvolle Zusammenarbeit der westlichen Regierungen. Sein Buch behandelt diese Krise nicht mehr, denn im englischen Original erschien es bereits 2003. Trotz des großen internationalen Interesses, das das Werk damals erweckte, vergingen mehr als fünf Jahre, bis die deutsche Übersetzung vorlag.
Vieles von dem, was Colin Crouch schreibt, ist inzwischen offenkundig geworden. Auf 160 Seiten bietet das Buch "Postdemokratie" aber eine gute Zusammenfassung aller Entwicklungen, die nicht nur zur heutigen Krise geführt haben, sondern die insbesondere auch die westliche Demokratie gefährden. Wahlergebnisse in diversen europäischen Staaten belegen dies.
"Die Leute rächen sich für die Globalisierung an den Minderheiten im eigenen Land, die absolut nichts dafür können", meint Crouch. "Das ist die Tragödie: Es ist sehr schwierig, Forderungen an die multinationalen Unternehmen politisch zu artikulieren, wenn sich die Menschen bedroht fühlen."
Reiche und Mächtige als Profiteure
Die zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen die Lohn- und Umweltpolitik multinationaler Unternehmen hält Colin Crouch deshalb für besonders wichtig, weil hier staatenübergreifend demokratische Interessen vertreten werden. "Die Schwäche liegt aber darin, dass dies nicht im Rahmen des formalen demokratischen Systems passiert, das auch weiterhin von grundlegender Bedeutung bleibt", so Crouch. "Vielleicht werden wir erleben, dass diese beiden Welten zusammen kommen. In den USA halte ich es für möglich, dass das Obama-Phänomen die Welt der Sozialbewegungen, aus der Obama kommt, und die Welt der formalen politischen Parteien zusammen bringt. Vor allem in Europa, aber auch in den USA können wir beobachten, dass Gewerkschaften und Sozialbewegungen sich allmählich zusammen schließen, wenn es um Fragen der globalen Arbeit geht."
Diese Ansätze aber erschienen Colin Crouch noch viel zu schwach. In der derzeitigen Konstellation sieht er eine große Gefahr. So wertvoll die Arbeit der vielen NGOs und Bürgerinitiativen auch sein mag, "von der Aufsplitterung der politischen Landschaft profitieren systematisch die Reichen und Mächtigen", schreibt Crouch.
Die Demokratie, wie der Westen sie nach dem Zweiten Weltkrieg einige Jahrzehnte erlebte, ist in Auflösung begriffen. Die Post-Demokratie, von der Colin Crouch spricht, ist aber ihrerseits nur eine Beschreibung dieser Auflösung. Wohin sie führen könnte, damit sollten wir uns seiner Ansicht nach viel ernsthafter auseinandersetzen.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Colin Crouch, "Postdemokratie", aus dem Englischen übersetzt von Nikolaus Gramm, Suhrkamp Verlag
Link
Suhrkamp - Postdemokratie