Chicos seltsames Leben und sein rätselhafter Tod
Das Ende des letzten Anarchisten
In Bolivien ist eine Gruppe von angeblichen Terroristen unter dubiosen Umständen umgebracht worden. In einigen europäischen Staaten hat der Vorfall viel Staub aufgewirbelt, nämlich in jenen Ländern, deren Staatsbürger die Betroffenen waren: Irland, Ungarn und Kroatien.
8. April 2017, 21:58
Am 16. April 2009 sind in Bolivien mutmaßliche Terroristen, die angeblich ein Attentat auf Präsident Evo Morales und andere bolivianische Spitzenpolitiker geplant haben sollen, nach einer Schießerei mit der Polizei im Hotel "Las Américas" in Santa Cruz (die Hauptstadt der gleichnamigen bolivianischen Provinz) getötet worden. Unter nicht ganz klaren Umständen sind drei Männer gestorben. Zwei weitere sind verhaftet worden und befinden sich derzeit unter strenger polizeilicher Bewachung im Untersuchungsgefängnis in La Paz.
Mercenarios extranjeros
An Nachrichten dieser Art aus Südamerika gewohnt, reagierten auch diesmal die Medien der meisten europäischen Länder schleppend. In drei europäischen Staaten hat das Thema jedoch eine, auf den ersten Blick überraschend breite, mediale Aufmerksamkeit erreicht: in der Republik Irland, in Ungarn und in Kroatien.
Die fünf mutmaßlichen Terroristen waren beziehungsweise sind Bürger der genannten Staaten, wenngleich ihre Staatsangehörigkeit schwierig zu definieren ist. Präsident Morales hat sie in seinem Statement als "mercenarios extranjeros" ("Fremdsöldner") bezeichnet.
Besonders in Kroatien hat der Vorfall für heftige Reaktionen gesorgt. Einer der Getöteten, jener mit der buntesten Biografie, hieß Eduardo Rozsa Flores, genannt Chico - und war der Bürger gleich dreier Staaten: Bolivien, Ungarn und Kroatien. Der Überlebende Mario Tadic ist Bolivianer mit kroatischer Abstammung.
Der letzte Anarchist
Eduardo Rozsa Flores, das klingt nicht unbedingt kroatisch und eigentlich ist er ungarischer Herkunft. Seine Biografie lesend, verliert man sich in einer Welt der Abenteuer und nicht umsonst ist er in einem Artikel als "der letzte Anarchist" bezeichnet worden. Die bolivianische Nationalzeitung "La Razón" nannte ihn "eine Ikone der extremen Ideen".
1991 nahm er auf Seiten der Kroaten im Kampf gegen Serben teil, bekam die kroatische Staatsbürgerschaft und hat in Slawonien, wo er kämpfte, Heldenstatus genossen.
Der britische Journalist Philip Sherwell hat Chico 1991 in Kroatien getroffen. Nach Chicos Tod veröffentlichte Sherwell im britischen "Telegraph" unter dem Titel "Meine Begegnung mit dem Mann, der vermutlich Evo Morales töten wollte" seine Erinnerungen an den damaligen bolivianisch-kroatischen Kämpfer. Der Journalist traf Chico "nach Weihnachten 1991 in den ostkroatischen Killing Fields." Er beschreibt ihn als einen flamboyanten, teils bolivianischen, teils ungarischen Weltreisenden, der sich auch mit Journalismus beschäftigte und der in der Anarchie dieses brutalen Krieges aufblühte.
In seinem Artikel erwähnte Sherwell den Tod von zwei britischen Journalisten, die in Slawonien unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen sind. Es gab Anschuldigungen, dass Chico für ihren Tod verantwortlich war. Aus seinem Artikel und auch aus anderen, die sich mit Chico beschäftigt haben, lässt sich nur sehr schwer etwas Bezeichnendes über diesen Mann sagen.
Vergessene Welt
Seine Biografie versetzt den Neugierigen in eine Welt, die man längst vergessen glaubte. Als Sohn eines jüdischen Ungarn und einer Spanierin wurde er 1960 in der bolivischen Stadt Santa Clara geboren. 1972 übersiedelte die Familie nach Chile, um an der marxistischen Revolution teilzunehmen.
Nach dem Putsch gegen Aliende übersiedelte die Familie nach Schweden und später nach Ungarn, wo Eduardo Rozsa Flores die Uni abschloss. Er wechselte von der extremen linken Szene in die extreme Rechte, konvertierte zum Islam und war aktiv in pro-palästinensischen Gruppen. In seinem Blog gab er zur Kenntnis: "I love Palestina" und "Proud to be a muslim". Nach seinem Kriegsdienst in Kroatien kehrte er wieder nach Ungarn zurück, wo er Bücher veröffentlichte und sogar einen Film über sein Leben produzierte. Dass er der Politik nicht den Rücken kehrte, beweist jetzt sein Tod in Bolivien.
Aus allen verfügbaren Berichten geht nicht klar hervor, was die fünf mutmaßlichen Terroristen gemeinsam hatten. Der überlebende Kroate war, wie Chico selbst, am kroatischen Krieg beteiligt. Bis 2005 war er, hoch dekoriert, in der kroatischen Armee. Ein junger, getöteter Ire ist nach Angaben der irischen Polizei bislang unbescholten gewesen.
The Wild Bunch
Es kann sein, dass während des Kriegs in Kroatien eine Gruppe entstanden ist, die entweder ihre Dienste als Söldner angeboten hatte, oder es kann sich auch um eine Gruppe gehandelt haben, die sich aus abenteuerlichen und "idealistischen" Gründen in den Dienst "der Unterdrückten", hier Seperatisten aus Santa Cruz, gestellt hat.
Wie auch immer, es sind viele Fragen offen geblieben. Es ist nicht klar, unter welchen Umständen diese angeblichen Staatsterroristen in Bolivien getötet wurden. Man fragt sich aber auch, warum und wieso die Anschuldigungen wegen der Tötung der englischen Journalisten nicht geklärt worden sind.
Irgendwie kann man sich an den amerikanischen Regisseur Sam Peckinpah erinnert fühlen, der in Filmen wie "Wild Bunch" (deutsch: "Sie kannten kein Gesetz", 1969) solche Figuren porträtiert hat. Seine Helden (Desperados - die Verzweifelten) zeichneten sich durch unklare Herkunft und unklare politische Einstellungen aus. Diese Apologeten der Gewalt töten, ohne nachzudenken. Dass solche Biografien nicht nur reine Fiktion sind, haben Leben und Tod von Eduardo Rozsa Flores, genannt Chico, bewiesen.
Links
La Razon - (span.)
Eduardo Rozsa Flores
Filmszene - The Wild Bunch