Vordenker des Liberalismus
Ralf Dahrendorf gestorben
Der deutsch-britische Soziologe und Politiker Lord Ralf Dahrendorf ist im Alter von 80 Jahren gestorben. Jüngst hat Ö1 Dahrendorf und Jürgen Habermas, der heute 80. Geburtstag feiert, im Salzburger Nachtstudio miteinander verglichen. Ein Rückblick.
8. April 2017, 21:58
Dahrendorf über die Ursachen des Nationalsozialismus (1962)
Der deutsch-britische Soziologe und Politiker Lord Ralf Dahrendorf ist gestorben. Dies teilte am Donnerstag der Chefredakteur der "Badischen Zeitung", Thomas Hauser, mit. Er hatte mit der Witwe gesprochen. Dahrendorf war als Berater für die Zeitung tätig.
Seinen 80. Geburtstag Anfang Mai hatte er, von Krankheit schon gezeichnet, inmitten akademischer Freunde in Oxford verbracht. Dahrendorf war einer der bedeutendsten deutschen Gesellschaftswissenschaftler. 1993 wurde er zum Mitglied des britischen Oberhauses ernannt.
Mehr zum Tod von Lord Ralf Dahrendorf in oe1.ORF.at
Zwei intellektuelle Werdegänge
Die beiden Intellektuellen Dahrendorf und Jürgen Habermas sind 2009 80 Jahre alt geworden - und sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Jürgen Habermas, der Linke, Ralf Dahrendorf, der Liberale. Habermas, in Düsseldorf aufgewachsen und in seiner Jugend geprägt durch eine bürgerliche Anpassung an eine politische Umgebung, mit der man sich nicht voll identifizierte, die man aber auch nicht ernsthaft kritisierte. Sein Vater war Geschäftsführer der Geschäftsstelle der Industrie- und Handelskammer zu Köln, ab 1933 Mitglied der NSDAP. Habermas selbst ist in der Hitlerjugend. Das sollte 2006 noch Anlass heftiger Polemik werden.
Ralf Dahrendorf wurde in Hamburg als Sohn eines Genossenschafters und SPD-Reichstagsabgeordneten geboren. Seine Doktorarbeit schrieb er über den Begriff des Gerechten im Denken von Karl Marx. Kurzzeitig gehörte er der SPD und der SDS, die seinerzeit von Helmut Schmidt geführt wurde, an. Bekannt wurde er aber durch sein politisches Wirken als Vordenker des Liberalismus. Beide Intellektuelle haben die Bundesrepublik Deutschland, die heuer 60 Jahre alt wird, geprägt.
Beide Denker über einander
In der Ö1 Sendung "Salzburger Nachtstudio" vom 10. Juni 2009 sagte Dahrendorf über Habermas: "Ich bin ein unverbesserlicher parlamentarischer Demokrat, Habermas ist eigentlich ein Volksabstimmungsdemokrat, ein Rousseau-Demokrat, der möchte, dass im Diskurs Lösungen gesucht werden, die dann Legitimität beanspruchen können, mir reicht es, wenn parlamentarische Mehrheiten in der Parlamentsdiskussion zu Mehrheiten kommen."
Und Habermas über Dahrendorf: "Mit seiner frühen Konflikttheorie wirkte Dahrendorf während der Studentenrevolte über das Fach hinaus. Er half auch mit, den Boden zu bereiten für eine sozialliberale Koalition. Als einziger öffentlicher Soziologe nach 1945 hatte Dahrendorf den Mut, frontal die Schicksalsfrage anzunehmen, warum in Deutschland eine Demokratie westlichen Zuschnitts sich nicht hatte durchsetzen lassen.
Denken im Zeichen der Krise
Während der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf sich bis zuletzt auf die Denkschule Karl Poppers und seine Konzeption der offenen Gesellschaft berufen hat, orientiert sich der neomarxistische Philosoph Jürgen Habermas an der kritischen Theorie Horkheimers und Adornos.
Der theoretische Disput zwischen liberaler und neomarxistischer Gesellschaftsdeutung profiliert Grundzüge der politisch-geistigen Geschichte der Bundesrepublik. Die umstrittenen Begriffe lauten: Demokratie und Kapitalismus, Markt und Politik, Konflikt und Konsens.
Wie kann man soziale Ungleichheit mildem, den kapitalistischen Markt sozialstaatlich zähmen, die politische Freiheit erhalten und die Demokratie verteidigen? Das waren und sind die Fragen, die auch in der aktuellen Wirtschaftskrise von Habermas und Dahrendorf kontrovers beantwortet wurden, beziehungsweise werden. So beklagte Habermas in einem "Zeit"-Interview die "rücksichtlose Dominanz" von Anlegerinteressen im Zeichen des Neoliberalismus und das "sozialdarwinistische Potential des Marktfundamentalismus":
Was mich am meisten beunruhigt, ist die himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit, die darin besteht, dass die sozialisierten Kosten des Systemversagens die verletzbarsten sozialen Gruppen am härtesten treffen. Nun wird die Masse derer, die ohnehin nicht zu den Globalisierungsgewinnern gehören, für die real wirtschaftlichen Folgen einer vorhersehbaren Funktionsstörung des Finanzsystems noch einmal zur Kasse gebeten.
Wohingegen Ralf Dahrendorf trocken konstatierte:
Ich glaube, dass sich überhaupt nichts geändert hat an der Richtigkeit liberaler und wirtschaftspolitischer und allgemein politischer Vorstellungen. Was sich gezeigt hat, dass in den Bereichen, in denen Regelung nötig ist, zu wenig Regelung da war, während in anderen Bereichen nach wie vor zu viel Regelung stattfindet. Das hat mit Neoliberalismus fast nichts zu tun, es hat nur etwas zu tun mit einem schwachen Staat in wichtigen Bereichen und ist im Übrigen eine Krise wie sie in Wirtschaftssystemen wohl leider gelegentlich auftauchen.
In den Beschreibungen der aktuellen Krise bleiben beziehungsweise blieben Habermas wie Dahrendorf ihren grundlegenden theoretischen Begriffen treu. Habermas fordert sozial staatliches Handeln gegenüber der Profitlogik des Kapitalismus, kritisiert die "hemmungslose Unterwerfung der Lebenswelt unter Imperative des Marktes" und fordert eine Weltinnenpolitik, die den globalisierten Kapitalismus reguliert.
Dahrendorf setzte dagegen weiter auf freiheitsstiftende Effekte der Marktwirtschaft und möchte die politische Kraft der Nationalstaaten ergänzt sehen durch das Engagement der Zivilgesellschaft.
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Das "Salzburger Nachtstudio" zu Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas vom 10. Juni 2009 können Sie 35 Tage lang nach Ausstrahlung der Sendung nachhören.
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