Realität und Phantastik vereint

Brodecks Bericht

In seinem neuen Roman beschäftigt sich Philippe Claudel mit großen Themen: Schuld und Unschuld, der Krieg und seine Folgen, der Versuch, zu vergessen, Heimat und das Fremde. Und das in einer Sprache, in der sich Realität und Phantastik begegnen.

"Ich bin eines Morgens mit einem Satz im Kopf aufgewacht und ich hatte keine Ahnung, wohin er führen würde", erinnert sich Philippe Claudel im Gespräch. "Es wurde der erste Satz im Buch: 'Ich heiße Brodeck und ich kann nichts dafür.' Es war wie ein geträumter Satz und ich begann sofort zu schreiben, weil ich sehr neugierig war auf den Namen Brodeck und warum dieser Mann sagt, dass er nichts dafür kann."

Ein schlichter Satz gab also den Ausschlag für den neuen Roman des französischen Autors Philippe Claudel mit dem Titel "Brodecks Bericht". Ebenso schlicht erscheint auch die Handlung - wenigstens auf den ersten Blick.

Alle gegen den Anderen

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schließt sich eine Dorfgemeinschaft zusammen, um einen Fremden zu ermorden, und beauftragt eben jenen Brodeck damit, eine Chronik der Ereignisse zu verfassen. Tatsächlich aber geht es Philippe Claudel um große Themen: um Schuld und Unschuld, um den Krieg und seine Folgen, um den Versuch, zu vergessen, um Heimat und um das Fremde. All dies beleuchtet Claudel anhand des kleinen fiktiven Dorfes irgendwo in Lothringen.

"Die kleine Gemeinschaft erlaubt mir, die große Gemeinschaft abzubilden", so Claudel. "Es ist ein Roman im Kontext des Krieges, wo plötzlich viele Dinge aufbrechen: die dunkle Seite der Menschen oder die erhabene Seite, die Tatsache, dass Menschen tatsächlich sehr gut oder sehr böse sein können. Das ist eine chemische Reaktion, die durch den Krieg ausgelöst wird".

Gut überlegt

Brodeck, der vor Jahrzehnten selbst als Fremder in das Dorf gekommen war, verbrachte zwei Jahre in einem Konzentrationslager, wo er nur überleben konnte, indem er sich ständig demütigen ließ, seine Frau Emélia hat nach einer Vergewaltigung ein Kind geboren und ihre Sprache verloren.

Das Auftauchen des Fremden, der nur "Der Andere" genannt wird, erscheint in der dumpf-dörflichen Atmosphäre vorerst als willkommene Abwechslung, zumal dieser "Andere" eine höchst auffallende Erscheinung ist, der in Begleitung eines Pferdes und eines Esels in den Ort kommt und für Gesprächsstoff sorgt.

Sogar den Zeitpunkt seiner Ankunft muss er sich vorher überlegt haben. Er kam nämlich zu der Tageszeit, zu der das Licht flach einfällt, wodurch alles ringsum, die Berge über dem Tal, die Wälder und Weiden, die Hausmauern, Giebel, Hecken und auch die Stimmen der Menschen hier noch schöner und erhabener wirkten. Eine Tageszeit, zu der es nicht mehr ganz hell ist. Er muss gewusst haben, dass zu dieser Stunde die Ankunft eines Unbekannten in einem Vierhundert-Seelen-Dorf, in dem man schon tagsüber zum Grübeln neigt, einen deutlichen Eindruck hinterlassen würde. Er muss gewusst haben, mit welcher Neugier man ihm begegnen würde. Denn die Angst vor dem Anderen kommt erst später, wenn Fensterläden und Fenster geschlossen sind, das letzte Holzscheit in die Asche gerutscht ist und Schweigen sich in den Häusern breit macht.

Mehrere Interpretationsmöglichkeiten

Zunächst begegnet die Dorfgemeinschaft dem Anderen mit Höflichkeit und Gastfreundschaft. Dann aber macht er sich verdächtig: Warum beobachtet er die Menschen so genau? Wieso wandert er stundenlang durch die Gegend? Als er sich schließlich als Maler entpuppt, der in seinen Bildern die verborgenen Seiten der Dorfbewohner einfängt und für alle sichtbar macht, ist sein Schicksal besiegelt.

Der Andere ist eine geheimnisvolle und vieldeutige Gestalt, für die Philippe Claudel mehrere Interpretationen hat: "Man könnte ihn als einen Mann sehen, der aus dem Nirgendwo in einem Dorf ankommt, der einen Platz sucht, wo er leben kann. Man könnte ihn auch als Metapher für den Künstler sehen. Durch seine Malerei beginnt er, das wahre Gesicht der Dorfbewohner zu enthüllen. Das ist für sie unerträglich. Man könnte ihn als Double des Erzählers sehen, vielleicht als eine Art fiktive Gestalt, die von Brodeck geträumt wird, der leider durch seine Erfahrung im Lager ein bisschen verrückt geworden ist. Man könnte ihn auch, wenn man die Beschreibung seiner Kleidung und seiner Accessoires betrachtet, als eine erzählte Person sehen, die aus der Literatur tritt."

Die Schuld der Völker

So vielschichtig wie die Figur des Anderen ist auch der ganze Roman. Während Brodeck für das Dorf die Chronik des Mordes verfasst und dabei um sein eigenes Leben fürchtet, schreibt er heimlich auch an einem weitaus persönlicheren Bericht, in dem er die Motive hinter der Tat zu ergründen versucht und gleichzeitig seine eigene Geschichte darlegt.

"Ein Roman wie 'Brodeck' untersucht die Rolle des Individuums gegenüber dem Kollektiv", meint Claudel. "Und die Schuld der Völker. Die Schuld der Völker ist real, das heißt, es gibt immer Verrückte unter uns, aber wir sind es, die ihnen die Mittel geben, noch verrückter zu sein, oder die, im Gegenteil, entscheiden, sie rechtzeitig zu stoppen."

All das erzählt Claudel gleichsam in Girlanden, in denen sich Brodecks Erinnerungen und die gegenwärtigen Ereignisse verbinden, und in seiner wunderbaren Sprache, sanft und gleichzeitig kraftvoll, poetisch und hintergründig, einer Sprache wie Musik, in der sich Realität und Phantastik begegnen. Manche Worte sind reine Erfindung, etwa der Ausdruck "Fratergekeime" als Bezeichnung für die Deutschen, und mit diesen Wortschöpfungen unterstreicht Claudel die Tatsache, dass sein Roman in einer fiktiven Wirklichkeit spielt.

Die Suche nach Heimat

"Ich habe deutsche Worte genommen, die ich ein bisschen deformiert und wieder zusammengeflickt habe, die dem Leser ein pittoreskes Deutsch vermitteln", erklärt Claudel. "Manche Leute haben mir gesagt: 'Aber dieser Dialekt ähnelt einem Dialekt, den ich kenne', aber in Wirklichkeit ähnelt er nichts, es ist der Dialekt des Buches."

Auch durch diesen Dialekt bekommt Claudels Roman etwas Universelles. Er spricht nicht nur über den Zweiten Weltkrieg, sondern über jeden Krieg, über die weltweit existente Angst vor dem Anderen und die Suche des Einzelnen nach einer Heimat - hochaktuelle Themen, die Claudel in seine eindringliche, sprachmächtige und gleichzeitig federleichte Literatur einbettet.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 17. Juli 2009, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 19. Juli 2009, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Philippe Claudel, "Brodecks Bericht", aus dem Französischen übersetzt von Christiane Sailer, Kindler Verlag

Link
Kindler - Philippe Claudel