Der Mann mit den elf Persönlichkeiten

Ich bin Robert, Wanda und Bobby

Ein seriöser Wissenschaftler verwandelt sich in einer therapeutischen Sitzung in den wütenden Teenager Tommy. Weitere abgespaltene Persönlichkeitsanteile tauchen auf. Robert Oxnam hat über seine dissoziative Identitätsstörung ein Buch verfasst.

Robert Oxnam ist nie allein. Der Sinologe und ehemalige Präsident der Asia Society, einem angesehenen Asien-Kulturzentrum in New York, ist eine multiple Persönlichkeit. "Meistens sind wir drei", so Oxnam im Gespräch. "Der eine ist Robert, das ist derjenige, der jetzt gerade spricht. Dann gibt es jemand viel jüngeren namens Bobby. Er pendelt im Alter zwischen 16 und 20 Jahren. Er ist unsere Quelle der Leidenschaft und Energie. Und dann gibt es noch Wanda. Sie hat dunkles Haar. Sie ist ruhig, meditativ, nachdenklich, mit sehr durchdringenden Augen."

Das ist schon eine wesentliche Verbesserung, denn ursprünglich stritten sich elf Identitäten in Robert Oxnam.

Unglücklich trotz beruflichen Erfolges

Was die meisten Leute über diese dissoziative Identitätsstörung wissen, stammt aus dem Film "Sybil". In den 1970er Jahren wurde die Geschichte einer Frau, die sich in 16 Persönlichkeiten aufgespaltet hatte, mit Sally Field verfilmt. Sybil war im Alltag kaum funktionsfähig. Doch, so Robert Oxnam, das sei nicht das typische Bild der Störung. Er selber war ehrgeizig, leistungsorientiert und in hohem Maße organisiert. Ein klassischer Typ A.

Doch trotz seines beruflichen Erfolgs war er zutiefst unglücklich und begann zu trinken. Schließlich ging er auf Entziehungskur. Doch auch nachher fühlte er sich nicht besser. Im Gegenteil. "Eines Tages bin ich zu meinem Therapeuten gegangen und habe ihm gesagt, dass nichts funktioniert und dass ich die Therapie abbrechen würde", erinnert er sich. "Und plötzlich war ich verschwunden. Als nächstes hörte ich die Worte: 'Die Stunde ist um'. Ich schaute auf meine Uhr, und es war tatsächlich eine Stunde vergangen. Ich erinnerte mich an nichts. Dann erzählte mir der Therapeut, dass ihm jemand anders, ein sehr zorniger junger Mann namens Tommy, begegnet sei. Ich hatte keine Ahnung, was vor sich ging."

Sogar körperliche Unterschiede

Alle Symptome, die auf multiple Persönlichhkeit hindeuteten, hatten sich bisher befriedigend auf andere Weise erklären lassen: Die teils drastischen Stimmungsschwankungen, wenn sich eine andere Person hervordrängte, ließen sich mit Stress oder zu wenig Schlaf erklären. Die Black-Outs, wie sie in der Therapiestunde passierten, konnte man auf den Alkohol schieben.

Für Robert Oxnam hieß es nun, Schritt für Schritt die anderen Identitäten aufzustöbern und der Ursache für diese Störung auf den Grund zu gehen. Multiple Persönlichkeit entsteht nahezu ausschließlich als Reaktion auf schweren körperlichen und sexuellen Missbrauch von Kindern unter fünf Jahren.

Und dann musste er sich mit der Frage beschäftigen: Wer bin ich eigentlich? "Im Prinzip treibt eine multiple Persönlichkeit die natürliche menschliche Neigung, verschiedene Rollen einzunehmen, auf die Spitze", meint Oxnam. "Die Identitäten haben eigene Namen, sind verschieden alt und haben sogar einen unterschiedlichen Stoffwechsel. Es gibt Studien, die Unterschiede im Pulsschlag und beim Immunsystem festgestellt haben."

Identitäten integrieren

Nicht immer lassen sich alle Persönlichkeiten in eine einzige integrieren. Therapeuten sind sich nicht einmal einig, ob das ein wünschenswertes Ziel darstellt. Im Fall von Robert Oxnam funktioniert die, nun über fast 20 Jahre Therapie erzielte, teilweise Integration wie eine Art Komitee. Man berät sich und pflegt Arbeitsteilung.

"Als multiple Persönlichkeit hat man eine genauere Vorstellung von den Stärken der verschiedenen Identitäten", so Oxnam. "Es gibt in mir zum Beispiel jemanden namens Robbie. Er hat früher sehr dominiert und ist die klassische Forscherpersönlichkeit. Ich wende mich nach wie vor an ihn, wenn ich etwa einen Vortrag vorbereiten oder Material zusammentragen muss. Er akzeptiert bereitwillig jede Aufgabe, liest sich in die Literatur an, bringt die Post-it-Pickerln im Text an und so weiter."

Götter haben viele Persönlichkeiten

Für Ehepartner ist das Leben mit einer multiplen Persönlichkeit keine einfache Sache. Robert Oxnam ist nun in zweiter Ehe mit der jetzigen Direktorin der Asia Society verheiratet. "Man hat mich einmal gefragt, ob es für mich leichter ist, weil meine Frau aus Indien stammt", erzählt Oxnam. "Das ist keine so triviale Frage, wie es den Anschein hat. In Indien hat man eine andere Auffassung von Multiplizität als im Westen. Indische Götter haben viele Arme, was ihre verschiedenen Identitäten betont. Eine Kunsthistorikerin getroffen zu haben, die über die Götter mit den vielen Armen Bescheid weiß, war wirklich ein Glück für mich."

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Robert Oxnam, "Ich bin Robert, Wanda und Bobby: Der Mann mit den elf Persönlichkeiten", aus dem Amerikanischen übersetzt von Gabriele Köhler, Patmos Vrlag

Link
Patmos - Ich bin Robert, Wanda und Bobby