Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss

Hitler besiegen

Einst war Avrum Burg Sprecher der Knesset und Vorsitzender der Zionistischen Weltorganisation. Mittlerweile hat er aber die religiösen Eliten in Israel verärgert. In seinem neuen Buch "Hitler besiegen" fordert er eine Abkehr vom "jüdischen Staat".

Er ist groß, blond und blauäugig. Seine Leidenschaft gehört dem Joggen, seinen sechs Kindern und seiner Frau Yael. Über Jahre war er der Jungstar unter den israelischen Politikern der Arbeiterpartei.

Burg, der auf eine außergewöhnliche politische Karriere zurückblicken kann - zuletzt war er der Sprecher der Knesset, davor für vier Jahre Vorsitzender der "Jewish Agency" und der Zionistischen Weltorganisation - leidet an einem Staat, der nach seiner Analyse mehr und mehr rassistisch wird, und der - wie er meint - den Holocaust zur Verteidigung der eigenen Interessen wie eine Rüstung vor sich herträgt.

In "Hitler besiegen" stellt Burg fest: "Israel ist der Auschwitz-Staat, dessen Kultur ein Trauma und dessen Seele ein Hort des Schreckens ist, immer und überall". Davon, so Burg, gilt es sich zu befreien, um eine bessere Zukunft für Israel zu erreichen.

Kampf zwischen Religiösen und Demokraten

Als David Ben Gurion am Nachmittag des 14. Mai 1948 im Stadtmuseum von Tel Aviv den Staat ausrief, definierte er, was dieser Staat sein sollte: ein jüdisch-demokratischer Staat. Diese grundsätzliche Definition stellt Avrum Burg, der ehemalige Sprecher des israelischen Parlamentes, der Knesset, in Frage:

Israel ist ein jüdisch-demokratischer Staat. Und ich sage: Das klingt so gut, aber ist es wirklich so gut? Und meine Antwort ist Nein! Meine Antwort ist Nein, denn Gott-sei-Dank haben wir unsere äußeren Feinde, und Gott-sei-Dank haben wir die Araber, die uns immer eine Entschuldigung bieten, warum wir uns nicht mit unseren inneren Problemen beschäftigen müssen. Aber lass uns einmal annehmen, eines Tages würde ein Wunder geschehen - im Nahen Osten passieren Wunder ab und zu - und der Friede, der ewige Friede würde anbrechen. Dann müssten wir den Blick nach innen wagen. Und der erste Konflikt, das erste explosive Element in unserer Gesellschaft, wäre der Kampf zwischen den Religiösen und den Demokraten!

Dieser Kampf zwischen den Religiösen und den Demokraten ist so alt wie der Staat Israel selbst. Da die Frage, wie viel Religiosität ein jüdischer Staat verträgt, eigentlich bis heute nicht geklärt ist, gibt es bezüglich Trennung von Staat und Religion auch keine Regelung in der israelischen Verfassung.

Israel ist kein säkularer Staat mehr

Die religiösen Kräfte im Land, Orthodoxe, Ultraorthodoxe und religiös-nationalistische Siedler sind bei jeder Parlamentswahl das Zünglein an der Waage. Und bestimmen dadurch sehr stark die politische Wirklichkeit. Avrum Burg schaut mit Besorgnis auf diese Entwicklung, obwohl er selbst religiös ist:

Israel wurde als europäische parlamentarische Demokratie gegründet. Sehr laizistisch und säkular. Nach mehr als 60 Jahren hat Israel nun das europäische Modell verlassen. Es ist kein säkularer Staat mehr. Wir sind jetzt an einer Weggabelung angekommen: wendet man sich nach rechts, wird man ein traditioneller, sehr religiöser Staat nach amerikanischem Vorbild. Obwohl es in den USA eine verfassungsmäßige Trennung zwischen Staat und Religion gibt, herrscht dort eine sehr starke religiöse politische Realität. Oder man kopiert das muslimische Modell, auch mit einem sehr religiösen Staat. Das sind zwei Optionen, die tief in der israelischen Psyche eingepflanzt sind.

Wie viele andere Menschen in Israel tritt Burg für eine vehemente Trennung zwischen Staat und Religion ein. Daraus folgt eine politische Forderung - jene nach der Gleichbehandlung aller israelischen Bürgerinnen und Bürger, mögen sie nun jüdisch sein oder nicht.

Von Extremisten entführt

Diese Vermischung von Religion und Nationalismus ist es, die Avrum Burg in seinem Buch "Hitler besiegen" nicht nur kritisch beleuchtet, sondern bekämpft. In 12 Kapiteln lässt er die Geschichte des europäischen Judentums und des Staates Israel Revue passieren und fragt danach, welche Lehren der Staat und seine Menschen aus dem Holocaust gezogen haben. Die politische Wirklichkeit in Israel sieht er so:

Israel - ebenso wie Palästina - wurde von religiösem Extremismus entführt. Die Siedler haben Israel entführt. Israel ist eine Geisel in den Händen der Siedler. Und die Siedler in den besetzten Gebieten haben eine Art faszinierender, nichts desto trotz gefährlicher, politischer, nationalistischer, religiös-messianischer Philosophie, die in den letzten 30 Jahren Israels politische Gestalt geformt hat, seit der Likud 1977 an die Macht gekommen ist.

Immer mehr Menschen in Israel würden - so Burg - der rassistischen Ideologie eines Avigdor Liebermann folgen, der offen gegen die arabischen Israelis hetzt und von einem Bevölkerungstransfer spricht: Palästinenser auf palästinensisches Gebiet, Juden auf jüdisches Gebiet. Und da schließt sich dann der Kreis wieder und man kommt zurück zur Frage: was ist der Staat Israel? Ein jüdisch-religiöser Staat oder ein Staat, der all seinen Bürgern gleiche Rechte einräumt?

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Avraham Burg, "Hitler besiegen", Campus Verlag