Vom Kampf um die Deutungsmacht über die Sünde

Wollust, Müßiggang und Co.

Jahrhunderte lang prägte die Kirche die Vorstellung, was Sünde ist. In der frühen Neuzeit beginnen die weltlichen Eliten, ihr dieses Monopol streitig zu machen und selbst die Rede von den Todsünden als machtpolitisches Instrument einzusetzen.

Die Rede von den sieben Todsünden hat in der Frühen Neuzeit Hochkonjunktur - egal ob es um die Kolonialisierung der "Neuen" oder die Disziplinierung der "Alten Welt" geht. Das christliche Europa zwischen dem ausgehenden 15. und dem späten 18. Jahrhundert zeigt sich geradezu besessen von Fragen der Sünde und der Buße.

Es ist eine Zeit, die nicht nur von heftigen Konfessionskämpfen, sondern auch von der beginnenden Staatenbildung und Säkularisierung geprägt wird. Und es ist eine Zeit, in der das Jahrhunderte lang von der katholischen Kirche beanspruchte Deutungsmonopol über die Sünde zu wackeln beginnt, sagt Martin Scheutz, Historiker an der Universität Wien. "Der Kirche gelingt es nicht mehr, diesen Diskurs allein zu steuern. Vielmehr streiten weltliche und geistliche Institutionen um die Bestrafung von Todsünden wie zum Beispiel Völlerei und Wollust."

Weltliche und geistliche Gerichte im Widerstreit

Der Ort, an dem der Kampf um die Deutungsmacht über die Sünde am vehementesten ausgetragen wird, ist der Gerichtssaal. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht dabei häufig die Todsünde der "Wollust" bzw. der "Unkeuschheit" oder "Unzucht".

Für den Historiker Karl Vocelka kommt dieser Fokus nicht von ungefähr: "Die Todsünde der Wollust ist eine der zentralen für die Etablierung von disziplinierter Bevölkerung, weil diese Disziplinierung auch über die Frage des Umgangs mit dem Körper läuft."

Während weltliche Gerichte "Unzucht" häufig mit Geldstrafen, Prangerstehen, Landesverweisen oder gar mit Todesstrafen ahndeten, arbeiteten geistliche Institutionen mit öffentlichkeitswirksamen Strafen während der Messe: Man musste, so Martin Scheutz, zum Beispiel mit einer brennenden Kerze als Sünder vor der Gemeinde stehen. "Hier sieht man deutlich, wie die geistliche und die weltliche Gerichtsbarkeit in Konkurrenz stehen, wobei sich langfristig die weltliche Gerichtsbarkeit durchsetzen sollte."

Der Fall Zürich

Die weltlichen Autoritäten lösten die geistlichen nicht nahtlos ab, sondern kooperierten zunächst miteinander. So auch in der reformierten Stadt Zürich, wo es im 16. und 17. Jahrhundert immer wieder zu Prozessen gegen "Sodomiten" kommt - gegen Männer, die der "Sünde" der Homosexualität oder des Geschlechtsverkehrs mit Tieren beschuldigt werden.

Die politisch einflussreichen Geistlichen und die Räte der Stadt Zürich gehen bei diesen Prozessen arbeitsteilig vor. Aufgabe der Geistlichkeit ist es, die Sünde der Sodomie aufzudecken und vor den Rat zu bringen; Aufgabe der weltlichen Gerichtsbarkeit ist es, das Urteil zu fällen, das meist den Tod der Angeklagten durch das Feuer oder das Schwert bedeutet.

Bis ins späte 17. Jahrhundert treten solche Sodomieprozesse nur vereinzelt auf, erklärt Thomas Lau, Historiker am Lehrstuhl für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Universität Fribourg. In den späten 1670er Jahren verzehnfacht sich die Zahl der Fälle jedoch plötzlich. "Wir haben Jahre, in denen sechs bis acht Personen innerhalb von nur sechs Wochen verurteilt und hingerichtet werden. Die große Frage ist natürlich: Was passiert da plötzlich?"

Die besseren Wächter über die Sünde

Wenn man die Gerichtsprotokolle untersucht, ergibt sich ein überraschender Befund. Die Geistlichkeit, der man in diesen Prozessen eine wichtige Rolle zumessen müsste, spielt auf einmal gar keine Rolle mehr. "Es sind Fälle, die allein von der Obrigkeit, allein von den Räten betrieben wurden. Und in all diesen Fällen sieht die Geistlichkeit auch schlecht aus", sagt Thomas Lau.

"Sie hat ihre Wächterfunktion nicht erfüllt, sie hat Sodomiefälle übersehen, sie musste aus politischen Gründen manchen Sodomiten positive Gutachten ausstellen. Das alles kratzt gewaltig an ihrer Reputation und gibt nun dem Rat die Möglichkeit, sich selber als 'reinigende Kraft' von Zürich zu stilisieren. Und das ist ein entscheidender Schritt zur Säkularisierung dieses Gemeinwesens, das zuvor durch die starke Beteiligung der Geistlichkeit am Regiment gekennzeichnet war."

Hör-Tipp
Dimensionen, Donnerstag, 12. November 2009, 19:05 Uhr

Buch-Tipps
Simon Blackburn, "Wollust. Die schönste Todsünde", aus dem Englischen von Matthias Wolf, Wagenbach 2008

Franz X. Eder, "Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität", 2. Aufl., C.H. Beck 2009

Thomas Lau, "Da erhob sich ein groß Geschrei über Sodom. Sodomitenverfolgung in Zürich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts", in: Invertito - Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, Jg. 11, 2009

Thomas Habersatter (Hg.), "Süße Laster - Lässliche Moral in der bildenden Kunst", Ausstellungskatalog der Residenzgalerie Salzburg, 2008

Volker Reinhardt, "Mein Geld! Meine Seele! Die größten Geizhälse und ihre Geschichten", C.H. Beck 2009

Link
Institut für die Erforschung der Frühen Neuzeit