Hanns-Josef Ortheils Kindheitserinnerungen

Die Erfindung des Lebens

Die Mutter ist traumatisiert vom Krieg. Der Sohn will nicht sprechen und soll in die Sonderschule kommen. Erst spät werden seine besonderen Begabungen erkannt. Im Roman "Die Erfindung des Lebens" arbeitet Hanns-Josef Ortheil seine eigene Kindheit auf.

Da sitzt er also nun in Rom, der deutsche Schriftsteller. In die italienische Hauptstadt hat er sich zurückgezogen, weil er hofft, hier endlich jenes Buch schreiben zu können, das ihm in der Heimat nicht und nicht gelingen will. Mitte 50 ist Johannes Catt und Rom hat er nicht zufällig als Zufluchtsort gewählt: hier erlebte er seine erste Liebe, seine ersten Erfolge, tiefe Freundschaften und noch tiefere Enttäuschungen.

Traumatische Kindheit

Catt will seine Jugendjahre niederschreiben; seine traumatischen Erlebnisse im Köln der Nachkriegsjahre. Der kleine Johannes ist ein Außenseiter. Stumm ist er, den ganzen Tag hängt er am Kittel der Mutter. Die ist so ängstlich auf das Wohl ihres Kindes bedacht, dass sie ihn keine Minute aus den Augen lässt.

In der Kölner Wohnung herrscht eine Atmosphäre, die dem Kind jede Luft zum Atmen nimmt. Und dann kommt der erste Schultag. Mutter und Sohn sind so verzweifelt, dass ihre giftige Symbiose auseinander gerissen wird, dass der kleine Johannes sofort wieder nach Hause rennt. Als er dann doch regelmäßig am Unterricht teilnimmt tut er sich beim Lesen und Schreiben äußerst schwer. In die Sonderschule soll er gehen, rät der Lehrer.

Keine Recherche, bloß Erinnerung

In einem Anfall von Verzweiflung beschließt der Vater, das Kind aus Köln wegzubringen. Er nimmt es zu den Großeltern. Dort blüht der Sohn auf: Das Landleben und die Distanz zur Mutter tun ihm sichtlich gut. Der Junge wandert jeden Tag mit dem Vater durch die Wälder, zeichnet Bäume, nimmt so viel Eindrücke in sich auf wie nur irgendwie möglich; und dann passiert das Ungeheuerliche: Der kleine Johannes beginnt zu sprechen.

Für seinen neuen Roman musste Hanns-Josef Ortheil nichts recherchieren. Er musste sich bloß erinnern. Ist "Die Erfindung des Lebens" doch die Geschichte seines eigenen Lebens. Oft wurde er gefragt, warum er denn schreibe, so Ortheil, oder warum er so eine enge Beziehung zur Musik habe. Die Antworten darauf konnten immer bloß fragmentarisch sein, erklärt der Autor.

Die Geister der toten Geschwister

Die Stummheit von Mutter und Kind basiert auf den traumatischen Erlebnissen der Familie. Im Berliner Bombenhagel verlieren die Eltern ihr erstes Kind. Sie fliehen zur Verwandtschaft in den Westerwald; doch auch das zweite Kind stirbt durch einen verirrten Granatsplitter kurz vor Ende des Krieges. Im Arm der Mutter.

Für sie ist das das Ende ihres Lebens. Sie verstummt. Dann folgen zwei Fehlgeburten. 1951 wird ein Nachzügler geboren, der - die Mutter kann es kaum fassen - überlebt. Aber die vier toten Geschwister hängen wie Geister über der Familie. Der Junge, der erst nach und nach von diesen schrecklichen Ereignissen erfährt, tut alles, um die Mutter zu trösten. Bis zum dritten Lebensjahr sei seine Entwicklung ganz normal verlaufen, sagt der Autor.

Flucht in die Musik

Die einzige Flucht aus der Isolation bietet für das kleine Kinde die Musik. Der junge Johannes setzt sich ans Klavier und beginnt zu spielen. So talentiert ist er, dass er mit vier Jahren schon Unterricht erhält und dann in eines der besten und strengsten Internate aufgenommen wird.

Trotz der Sprachschwierigkeiten besteht er das Abitur und anschließend auch die Aufnahmeprüfung für das Konservatorium in Rom. Alles scheint gut zu werden. Die ersten Erfolge als Pianist stellen sich ein und Johannes hofft auf eine Karriere als Solist. Doch dann - von einem Tag auf den anderen - zerbricht auch dieser Traum. Eine schwere Sehnenscheidenentzündung macht das Spielen unmöglich und zwingt den Mann, sich neu zu orientieren. Er beginnt ein Studium der Geisteswissenschaften und wird Schriftsteller.

Es sei ihm nicht leicht gefallen, dieses Buch zu schreiben, sagt Hanns-Josef Ortheil. War das Vergegenwärtigen der Vergangenheit doch ein schmerzhafter Prozess.

Sind die Dämonen zu bannen?

Sein Roman ist ein äußerst bewegendes Dokument, ein Buch, das durch seinen klaren, präzisen, ebenso berührenden wie mitleidslosen Stil überzeugt. Es ist ein wunderbarer Text über die Magie der Musik; über den Kampf eines Jungen, der sich von seiner Außenseiterposition in die Mitte der Gesellschaft kämpft. Und vor allem ist es ein Buch über eine unbeirrbare väterliche Liebe. Über einen Vater, der aus Stärke, aus Überzeugung und Instinkt heraus immer das richtige tut, und so eine über alle Maße verzweifelte Frau und das nahezu lebensunfähige Kind ins Leben zurückholt.

Am Ende scheint wirklich alles gut zu werden. Auch die Mutter findet ihre Sprache wieder. Der einstige Schulversager wird gefeierter Pianist und renommierter Schriftsteller. Doch die Dämonen der Kindheit lassen sich durchs Schreiben nur bedingt bannen, sagt Hanns-Josef Ortheil. Er habe immer noch das Gefühl, alles könne jederzeit wieder zusammenbrechen, so der Autor.

Hör-Tipps
Buch der Woche, Freitag, 13. November 2009, 16:55 Uhr
Ex Libris, Sonntag, 15. November 2009, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Hanns-Josef Ortheil, "Die Erfindung des Lebens", Luchterhand Verlag