Robert Altman lässt grüßen

Einsamkeit und Sex und Mitleid

Der Wahlberliner Helmut Krausser hat hier einen höchst gegenwärtigen und auch außerordentlich gelungenen Berlin-Roman vorgelegt. Es sind drei Geschichten, die à la "Short Cuts" der Marke Robert Altman zu einem Großstadtroman zusammenführen.

Der Mann kleckert nicht, er klotzt. Zum Einen sind es Hunderte Seiten starke Bücher, mit denen er den großen Dingen auf den Grund geht: seien es die Mythen der Menschheit, die deutsche Romantik oder - wie vor drei Jahren im Roman "Eros" - die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zum andern sind es herausragende Künstlerleben, die er in literarische Form zu überführen versucht: das der Callas oder zuletzt - so hieß auch der Roman - "Die kleinen Gärten des Maestro Puccini".

Diesmal ist es bereits der Buchtitel, der klar macht, dass es ums Ganze geht: "Einsamkeit und Sex und Mitleid". Vielleicht ist der Titel eine kleine Paraphrase von "Einigkeit und Recht und Freiheit", die in der deutschen Nationalhymne beschworen werden, tatsächlich aber hat der Wahlberliner Helmut Krausser einen höchst gegenwärtigen und - das sei vorneweg gesagt - auch außerordentlich gelungenen Berlin-Roman vorgelegt.

Überraschungen zu Weihnachten

Der Roman beginnt zu Weihnachten, mit drei verschiedenen Weihnachtsgeschichten, und schon die erste hat es in sich: Da bricht ein heruntergekommenes Mädchen am Heiligen Abend in die Wohnung eines Callboys, also eines professionellen Seelentrösters und Damenbeglückers, ein. Statt Gewalt und Polizei folgt eine bizarre Liebesgeschichte, die Geschichte zweier Außenseiter zur heiligsten und einsamsten Zeit des Jahres. Das mag sentimental klingen, aber Krausser erzählt es ebenso salopp wie rasant, sodass man am Ende die historische Geschichte vom Weihnachtsengel tatsächlich unter neuen Blickpunkten sieht.

Weihnachten Nummer zwei findet in einer Kneipe namens "Nachtmar" statt, diese wird später noch ein zentraler Schauplatz des Geschehens werden, fürs Erste ist es das Anbandeln zwischen einer schwarzen Kellnerin und einem abgewrackten Stammgast, einem gefeuerten Lateinlehrer.

Nummer drei spielt in einem Yuppie-Haushalt, in dem die Ehefrau just an diesem Abend ihrem Mann den Weg zur Tür weist.

Lockerer Figuren-Tanz

Drei Prosaskizzen, drei Miniaturen, die eines auszeichnet: Authentizität und ein selten gehörter leichtfüßiger Erzählton. Wie diese Geschichten und ihre handelnden Personen allesamt zusammenkommen, davon handelt der Roman, zuerst allerdings wird noch eine ganze Palette weiterer Figuren eingeführt: ein Unternehmer, der ein Verhältnis mit seiner Sekretärin hat, ein junges, nicht unbedingt hübsches Mädchen, um dessen Gunst ein junger Moslem und ein von verbohrten Eltern zum christlichen Fanatiker gedrillter Sohn wetteifern, eine an Epilepsie erkrankte Tänzerin, eine Straßengang türkischer Jugendlicher, vor Testosteron strotzend und vor Feigheit zitternd, eine Gruppe Berliner Punks und schließlich ein irrer Prediger, der mit den Worten Jesajas den Berliner Kreuzberg zu erwecken versucht.

Helmut Krausser führt dieses Figurentableau auf einleuchtende Weise zusammen, keine Holzschnittkonstruktion, eher ein lockerer Tanz, und nachdem es um Sex und um Liebe geht, sind die Berührungspunkte mit Schnitzlers "Reigen" nicht von der Hand zu weisen. Die Yuppie-Frau, die ihren Ehemann zu Weihnachten geschasst hat, bestellt sich den Callboy, der allerdings ihre intimsten Wünsche nicht befriedigen kann, weil er seinem Weihnachtsengel, der Einbrecherin, die nun auch als Professionelle werkt, ein Ejakulationsverbot im Job versprochen hat.

Der von seinen Eltern beinahe in den religiösen Wahn getriebene Sohn versteht unter Erektion "Verhärtung" und unter Ejakulation "ein sich unten Übergeben", bis er bei der Freundin des Callboys landet. Zwischen der Kellnerin und dem Ex-Lateinprofessor entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte, garniert mit Vorträgen über das römische Kaiserreich, der junge Moslem wird am Ende das "nicht unbedingt hübsche" Mädchen erobern, und die Punks werden noch für einiges Aufsehen sorgen, in jener Kneipe namens "Nachtmar", in der die Geschichten begonnen haben, und die man getrost ein gegenwärtiges Gorkisches "Nachtasyl" nennen kann. Dazwischen gibt es noch eine Kindesentführung mit unvorhergesehenem Ausgang - aber alles soll nun hier auch nicht verraten werden.

Leichtfüßiges Erzählen

Das Fazit lautet, dass Helmut Krausser - abgesehen von wenigen, zu bemühten Scherzen - ein außerordentlich gediegenes Stück Literatur gelungen ist. Ein Buch, mit dem er - was etwa Milieuschilderungen anbelangt - an seine frühen Arbeiten anknüpft, etwa an "Fette Welt", den in den frühen 1990er Jahren erschienenen und verfilmten Roman über die Münchner Obdachlosenszene.

Sollte jemand den Titel, "Einsamkeit und Sex und Mitleid", für zu reißerisch halten, sollte jemand - wie im deutschen Feuilleton schon geschehen - von Kolportage sprechen, dann gilt es wohl zu bedenken, dass die leichtfüßige Form des seriösen Erzählens eines der größten Kunststücke der Literatur ist. Und am Ende zählt das, was hier tatsächlich vorliegt: ein Großstadtroman, filmisch inszeniert mit "short cuts" der Marke Robert Altman; ein Plädoyer für die nicht nur körperliche Liebe in Zeiten allumfassender Coolness und herrschenden Sarkasmus. Wieder einmal ein Triumph der Romantik also, aber das ist bei Helmut Krausser ja nichts Neues.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Helmut Krausser, "Einsamkeit und Sex und Mitleid", Dumont Verlag

Link
Dumont Verlag - Helmut Krausser