Autor mit kosmopolitem Hintergrund

Istanbul, Stadt der Märchen

"Es war Abend, Ihr habt gelächelt", der Beginn eines alten Liedes, das dem Erzähler des Romans "Istanbul war ein Märchen" in den Sinn kommt. Und so beginnt das Buch mit den Zeilen dieses Lieds wie ein Heldenlied aus alten Zeiten, wie ein Versprechen.

Istanbul war immer eine Stadt voller Geheimnisse. Das beginnt bei den Einwohnerzahlen: Niemand weiß genau, wie viele Menschen in Istanbul wirklich leben. Mittlerweile gibt es so viele Zuwanderer aus Anatolien, dass die Verwaltung längst den Überblick verloren hat.

Sollten Sie sich mit einem Stadtplan in Istanbul zurecht finden wollen, machen Sie sich darauf gefasst, dass Sie sich heillos verlieren. Wenn Sie Glück haben, erbarmt sich ein freundlicher Mensch - nicht ohne sich kopfschüttelnd die Naivität der Fremden zu wundern - und bringt Sie zu Ihrem Ziel.

Vorfahren aus Spanien

Istanbul war immer fremdenfreundlich, verstand sich als eine Stadt, in der Menschen vieler Kulturen zusammen leben konnten. Zumindest in alter Zeit. Die 1492 aus dem rekatholisierten Spanien vertriebenen Juden, die Sefarden, wurden in Istanbul freundlich aufgenommen. Sie dankten es ihrer neuen Heimat durch ihr handwerkliches und händlerisches Geschick und trugen so zur wirtschaftlichen Blüte der Stadt bei.

Mario Levis Vorfahren kamen aus Spanien. Seine Großmutter lehrte ihn noch die alte Sprache, die sich seit der Vertreibung nicht wesentlich geändert hat: das Ladino. Seine Eltern sprachen Französisch, wie es bei Nichtmuslimen üblich war. Er wuchs also wie ein echter Kosmopolit auf, blieb der Tradition auch treu, zumindest in einer Hinsicht: Er studierte Romanistik und schrieb sein erstes Buch über den französischsten aller Belgier: eine Biografie über Jacques Brel.

Dummerweise hat er selber mit der kosmopolitischen Tradition gebrochen, denn er hat es versäumt, seinen Töchtern Ladino beizubringen.

Raues politisches Klima

Seine Familie lebt seit nunmehr 500 Jahren in Istanbul, und das macht Mario Levi gleich in zweifacher Hinsicht zu einem Angehörigen einer Minderheit: Er ist echter Instanbuler, und er ist Istanbuler Jude. Auf die Frage, ob er gerne in dieser Stadt lebt, antwortete er mit einem Lächeln und einer Gegenfrage: "Hätte ich sonst einen so umfangreichen Roman über diese wunderbare Stadt geschrieben?"

Aber gleich folgt ein düsterer Gedanke: Bis zur Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 hätte er sich nie vorstellen könne, in einem anderen Land zu leben. Das politische Klima ist rauer geworden, die Toleranz, die vor dem Zweiten Weltkrieg selbstverständlich war, ist verloren gegangen. Und genau deshalb, setzt er nachdenklich hinzu, darf Europa die Türkei, die in die EU will, nicht zurückweisen. Das würde die ultranationalistischen Kräfte und die religiösen Fanatiker stärken.

Kaleidoskop aus 50 Schicksalen

In seinem großen Roman "Istanbul war ein Märchen", an dem er sechs Jahre lang geschrieben hatte, verwebt Levi die Schicksale von 50 verschiedenen Menschen - ein grandioses Kaleidoskop armenischer, griechischer, russischer, christlicher, jüdischer, muslimischer Schicksale, vereint vor dem Hintergrund einer großartigen Stadt. Und er veröffentlichte den Roman vier Jahre vor Orhan Pamuks großem Istanbulbuch "Istanbul - Erinnerung an eine Stadt".

Mein Buch, meinte er, ist auch ganz anders als seines. Was mich von ihm unterscheidet, erklärte er, ist die Sicht des Auslandes auf uns. Er hat sich der offizielle Staatsmeinung widersetzt -die Türkei lehnt nach wie vor jede Verantwortung für die Vertreibung der Armenier 1915 ab -, daher gilt er dem Ausland als Dissident. Das kommt gut.

Hoffnungen und Enttäuschungen

Levis jüngster Roman, der im Englischen "Where Were You When Darkness Fell" heißt, beschäftigt sich mit den Ereignissen in den 1970er Jahren, als die Linken verfolgt wurden. Mario Levi, der selbst einige Freunde verloren hat, spürt den großen Hoffnungen und den ebenso großen Enttäuschungen nach, dem Sterben der Ideen, dem Sterben von Freundschaft und dem Verrat an den Überzeugungen und der eigenen Seele.

Auf die Frage, wenn er auswandern würde, wo er gerne leben würde, überlegte er kurz, dann sagte er: "Ich habe meine große Liebe geheiratet. Sie ist Türkin. Ich spreche türkisch mit ihr, in der Straße, in der ich lebe, spricht man türkisch, und wenn ich fluche, dann fluche ich türkisch. Also wo sollte ich hin?"

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Buch Mario Levi, "Istanbul war ein Märchen", Suhrkamp

Mario Levi