Wien-Krimi im Psychoanalytikermillieu

Die Notizen des Doktor Freud

Im Rahmen einer Kooperation mit dem Verlag Deuticke publiziert oe1.ORF.at exklusiv für die Abonnenten und Abonnentinnen des einmal wöchentlich erscheinenden Newsletters die ersten Kapitel des im Frühjahr erschienenen Buchs "Die Notizen des Doktor Freud".

Mehr zu Hans-Otto Thomashoff in oe1.ORF.at

3. Ein wichtiger Auftrag

Als wechsele er zwischen zwei Welten, trat er, kurz nach dem Verlassen des dunklen Hauses in der Ballgasse, unter dem Torbogen hindurch zurück auf den lichtdurchfluteten Franziskanerplatz.

Sie saß noch dort. Er ging auf sie zu.

"Sie haben wirklich gewartet? Das freut mich."

"Ja."

Das war ihr erstes Wort. Er setzte sich zu ihr an den Tisch.

"Wie soll ich es Ihnen erklären? Ich musste mich gerade für eine Stunde der Gesundheit widmen, seelisch, nicht körperlich."

Er wollte den Eindruck vermeiden, dass es sich um etwas Ansteckendes handeln könne.

"... dafür kann man nicht genug tun. Den Termin konnte ich nicht absagen. Nicht, dass ich sonst Marilyn für Napoleon halten würde ... sie ist sowieso ein Weibchen, ... mein Dackel. Bitte unterbrechen Sie mich, bevor ich mich gänzlich zum Narren mache. Erzählen Sie mir doch von sich, wer sind Sie, und was machen Sie hier?"

Sie blickte überrascht.

"Wie meinen Sie das?"

"Na, wie fangen wir an?"

Eine peinliche Pause entstand.

"Vielleicht drücke ich mich ungeschickt aus. Erzählen Sie mir doch zum Beispiel, was Sie an so einem herrlichen Tag auf diesen Platz bringt, oder was Sie beruflich machen?"

Er suchte in ihren Augen nach einem Thema, um das Eis, das sie umgab, zum Schmelzen zu bringen. Die Frage nach ihrem Beruf war lediglich eine Ausflucht, aber sie brachte sie zum Sprechen.

"Ich arbeite auch im Gesundheitsbereich."

"Nein, da muss ich mich falsch ausgedrückt haben. Ich bin nur Patient - bei einem Psychoanalytiker. Ich liege seit dreieinhalb Jahren auf seiner Couch und werde hoffentlich in weiteren drei Jahren so weit sein, dass ich selbständig einmal eine Stunde absagen kann, wenn es sein muss."

"Ach so?"

"Ich bin Kriminalbeamter am Morddezernat."

Von ihr kam keine Reaktion.

"Unsere Verbindung zur Medizin beschränkt sich dort auf den Pathologen ... Und was genau machen Sie?"

"Ich bin Krankenschwester bei einem plastischen Chirurgen."

"Aber Sie selbst, Sie sind doch echt? ... Und falls nicht, sind Sie jedenfalls sehr gelungen."

Zum ersten Mal lächelte sie. Welch wundersame Wirkung sie auf ihn ausübte.

"Nein, ich lasse kein Messer an mich heran. Ich passe schon auf, dass mir nichts zu nahe kommt."

"Das bezieht sich doch hoffentlich nur auf Messer?"

"Wie meinen Sie das?"

"Das war nur ein kleiner Scherz."

Wieder stockte das Gespräch. Federer suchte verzweifelt nach einem neuen Anfang, doch sein Hirn war wie leer gefegt. Schließlich ergriff sie das Wort.

"Ja, also, ich muss dann langsam aufbrechen."
"Aber wir lernen uns doch gerade erst kennen, da können Sie nicht einfach schon wieder verschwinden. Wie wäre es, wenn ich Sie heute Abend in ein Konzert einlade? Mögen Sie Mahler?"

Sie schaute ihn fragend an.

"Gustav Mahler ... den Komponisten."

Je mehr er sagte, und je weniger sie ihm antwortete, desto verwirrter wurde er. Hätte er sie besser nicht ansprechen sollen? Doch sein Blick hing an ihr, und seine Zweifel lösten sich auf in Verlangen.

"Sie mögen klassische Musik?"

Federer war Abonnent einer Konzertreihe, hatte dort regelmäßig zwei Plätze reserviert. Man konnte ja nie wissen, wofür eine zweite Karte gut sein mochte. Meist gab er sie zurück in Kommission.

"Ich weiß nicht."

"Das Konzert heute Abend werden Sie lieben, das verspreche ich Ihnen. Schauen Sie, ich wohne dort oben, im dritten Stock ..."

Er deutete mit dem Finger auf seine Wohnung in dem Haus Nummer eins.

"... Kommen Sie gegen halb sieben zu mir, und dann gehen wir gemeinsam von hier aus in den Musikverein. Läuten Sie bei Federer, und erschrecken Sie sich nicht vor dem Hund. Er ist zwar nicht groß, aber sehr laut. Doch Sie müssen entschuldigen. Ich habe mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt ..."

Er verbeugte sich kurz.

"... Mein Name ist Federer, Georg Federer. Und Ihren Namen kenne ich ja auch noch nicht."
"Vera, Vera Kerzl."

"Es freut mich, Sie kennen zu lernen."

"Ja."

"Und Sie kommen doch heute Abend?"

"Na gut, aber jetzt muss ich zurück in die Ambulanz. Gleich stellen sich noch zwei Patienten zur Fettabsaugung vor ... Ich muss los."

Sie stand auf, und er sah ihr dabei zu, erhob sich dann selbst. Nein, er täuschte sich nicht in ihr. Seine Regungen waren unmissverständlich. Und dann blickte sie ihn an, und ihre Augen schienen jedes Versprechen zu halten.

"Bis später dann."

"Bis heute Abend."

Sie bewegte sich leicht, weich und doch elegant, war schon in der Weihburggasse verschwunden, als er ihr noch im Stehen nachschaute. Die Turmuhr riss ihn heraus aus seinen Gedanken, und er stieg hinauf in seine Wohnung, wo Marilyn ihm entgegensprang, als sei er von einer Weltreise zurückgekehrt. Geistesabwesend würdigte er ihr Begrüßungszeremoniell, trug sie dann auf die Straße hinunter und schlenderte ihr gemächlich hinterher. Sie kannte den Weg. Die warme Sonne spiegelte sich im Pflaster der Straßen und blendete ihn wohltuend. Obwohl er kaum etwas sehen konnte, genoss er das grelle Licht ebenso wie den warmen Wind, der, angereichert mit dem Blütenduft von Akazien, die Stadt wie ein Atemhauch durchzog. Die letzten Schritte über den Ring, dessen frisches Grün Bewohner und Gäste der Stadt zu müßigem Nichtstun verleitete, stellten seine Entscheidung, sich nach seiner langen Reise wieder dem geregelten Leben im Staatsdienst zu unterwerfen, auf eine harte Probe. Nicht nur die Natur, auch die Menschen waren auf einmal voller Farbe. Statt Lodengrau trug man ein gelbes Kostüm hier, einen blauen Anzug dort oder sogar leuchtendes Rot, wie ein junger Mann, der Federer kurz grüßte, obwohl der sich nicht erinnern konnte, ihn je zuvor gesehen zu haben; doch das passierte ihm häufiger. Nur widerwillig betrat er am Deutschmeisterplatz das Gebäude des Dezernats.

Ausgerechnet Schröger lief ihm drinnen direkt in die Arme. Statt dass der sich entschuldigte, trampelte er mit dem nächsten seiner unkoordinierten Schritte mitten auf den borstigen Schwanz von Marilyn, die daraufhin jaulend das Weite suchte. Federer verachtete Schröger. Musste der seine chronische Unzulänglichkeit auch noch an dem Hund auslassen?

"Passen Sie doch auf."

"Schreien Sie mich nicht an. Ich habe es eilig, ich habe einen Auftrag von der Berndorfer."
Stankovic, der Leiter des Dezernats, weilte gerade in seiner zweiwöchigen Frühsommerfrische, und der Kollegin Berndorfer wurde damit die Ehre zuteil, den von ihr vergötterten Vorgesetzten zu vertreten. Geradezu leidenschaftlich kostete sie diese alljährliche Ausnahmesituation aus, vor allem indem sie Schröger wie einen Lakaien mit Aufgaben überschüttete, durch die dieser sich seinerseits zu ungeahnter Bedeutsamkeit emporzuschwingen glaubte. Stankovic verreiste immer in den letzten beiden Maiwochen, da seiner Erfahrung nach selbst die ruchlosesten Verbrecher zu dieser Jahreszeit, angesichts des überall blühenden Lebens, ihre Mordlust ruhen ließen. Bei aller Unentbehrlichkeit seiner Person konnte er so eine befristete Abwesenheit vom Zentrum seiner Macht verantworten. Im Dezernat war es die Zeit, in der Überstunden abgebaut und Akten unerledigter Fälle zu Karteileichen erklärt wurden. Es machte bei so einem Wetter einfach keinen Sinn, länger als unabdingbar in einem dunklen Arbeitszimmer eingepfercht zu bleiben. Einzig die Kollegen von Gendarmerie und Parkraumbewirtschaftung arbeiteten in diesen Tagen engagierter als sonst, nutzten jede Minute, um den beengenden vier Wänden ihrer Amtsstuben zu entfliehen und Falschparker oder andere Gutwetterkriminelle zu überführen, und natürlich die Kollegin Berndorfer, die regelmäßig im Frühling von einem außergewöhnlichen Ehrgeiz befallen war. Endlich bot sich ihr die Gelegenheit, ihre bislang unerkannten Führungsqualitäten unter Beweis zu stellen.

Federer ließ Schröger seines Weges ziehen und folgte Marilyn, die bereits in Erwartung einer Belohnung vor seiner Bürotüre saß - einen Keks für den Hund, einen Kaffee für den Herrn. Ohne sein schwarzes Gebräu war für Federer an Arbeit nicht einmal zu denken. Zumindest hierin war Wien nicht der Beginn des Balkans, sondern der Vorposten eines mediterranen Lebensgefühls. Ein kurzes Warten nach den ersten Schlucken, und die angenehm belebende Wirkung durchzog seinen Körper wohlig wie ein warmer Strom. All seinen Hoffnungen zum Trotz wollte sich jedoch die Inspiration auf Arbeit heute nicht einstellen. Der verstaubte Aktenberg in seinem Wandschrank blieb beharrlich ohne jeden Reiz. Federer saß da und blickte starr vor sich hin. Schließlich zog er wahllos drei der Akten aus dem Stapel heraus, legte sie in die Mitte seines Schreibtisches und öffnete eine Schublade. Geradezu feierlich entnahm er ihr ein großes rotes Stempelkissen und einen Ständer mit sieben verschiedenen Stempeln, aus denen er zielsicher den größten mit der Aufschrift "ERLEDIGT" herausfischte. Sorgfältig presste er ihn auf das Stempelkissen und drückte ihn anschließend jeweils auf Vorder- und Rückseite der drei Akten. Dann legte er seine Hilfsmittel in die Schublade zurück, verschloss diese gewissenhaft und trug sein Tagwerk hinab in das Archiv, dessen endlose Regale fast zur Gänze den Keller des Gebäudes einnahmen. Er stellte sicher, dass er die drei Akten nicht zusammen und vor allem nicht an der ihrer Nummerierung entsprechenden Stelle einordnete. Von nun an waren sie verschollen, würden nie wieder das Tageslicht erblicken. An einem einzigen Nachmittag hatte er gleich drei Fälle abgeschlossen. Auf einmal war sie da, die Inspiration.

Federer kehrte an seinen Schreibtisch zurück, blickte hinaus auf die Straße. Einige Hunde tollten frühlingswild umher, und dort über den Platz eilte Schröger mit einem Karton voller Brötchen. Das war also der wichtige Auftrag, den Berndorfer ihm gegeben hatte. Federers Pflichtbewusstsein löste sich endgültig für heute in Luft auf, und er verließ das Dezernat viel schneller, als er gekommen war.