Die "stille Sucht"

06. Medikamentenabhängigkeit

Die Medikamentenabhängigkeit ist die für die Umwelt unauffälligste aller Suchterkrankungen und auch am schwersten fassbar. Denn die gesundheitlichen Folgen sind nicht so eindeutig wie die des chronischen Alkoholmissbrauchs. Die Zahl der Medikamentenabhängigen steigt seit zwei Jahrzehnten kontinuierlich. Schätzungen zufolge gibt es etwa 100.000 Medikamentenabhängige in Österreich. Davon sind sechzig Prozent Frauen.
Wie viele Menschen, die regelmäßig Medikamente einnehmen, diese missbräuchlich verwenden - darüber gibt es nur Vermutungen. Der Übergang zwischen Missbrauch - also dem gesundheitsschädlichem Gebrauch - und der Abhängigkeit ist fließend. Von Abhängigkeit spricht man dann, wenn psychische, aber auch physische Entzugserscheinungen auftreten. Nur wenige Betroffene suchen professionelle Hilfe auf. Dementsprechend wird das Thema auch in der Öffentlichkeit unterschätzt und vernachlässigt.

Substanzen mit Suchtpotential
Am häufigsten führen Schmerzmittel, Beruhigungs- und Schlafmittel zu einer Abhängigkeit. Eine untergeordnete Rolle spielen Aufputschmittel und Appetitzügler. Bei einigen Betroffenen liegt eine Abhängigkeit von mehreren Substanzen vor - manche nehmen bis zu 20 Präparate gleichzeitig! Auch die Kombination von Medikamenten mit Alkohol kommt vor.
Einige der Medikamente mit Suchtpotential sind frei verkäuflich, die meisten aber rezeptpflichtig. Von den am häufigsten verschriebenen Medikamenten haben etwa sechs bis acht Prozent ein zum Teil hohes Suchtpotential. Das heißt: Arzneimittelabhängigkeit kann durchaus in der Arztpraxis beginnen. Einer der Gründe dafür könnte sein - so unser Sendungsgast Dr. Sokol - dass den Ärzten und Ärztinnen immer weniger Zeit für den einzelnen Patienten bleibt. Rezepte werden in vielen Praxen von den Ordinationshilfen ausgestellt.

Mittel, die süchtig machen
Benzodiazepine gehören zur Gruppe der Tranquilizer (Beruhigungsmittel) und werden zur Therapie von Angst- und Unruhezuständen sowie bei Schlafstörungen eingesetzt. Die Entwicklung einer Abhängigkeit ist bei allen Medikamenten dieser Wirkstoffgruppe möglich. Obwohl generell auch die Medikamentensucht durch eine allmähliche Dosissteigerung (Toleranzentwicklung) gekennzeichnet ist, trifft das im Fall der Benzodiazepine nicht zwingend zu. Es kann sich auch eine so genannte Niedrigdosis-Abhängigkeit entwickeln. Diese tritt selbst bei vorschriftsmäßiger Dosierung bereits nach vier bis sechs Wochen ein. Werden Benzodiazepine abrupt abgesetzt, kommt es genau zu jenen Symptomen, gegen die das Medikament ursprünglich eingenommen: zu Angst und Schlaflosigkeit. Der Teufelskreis hat sich geschlossen.

Risiko: Schmerzmittel
Neben den Schlaf- und Beruhigungsmitteln sind es vor allem Schmerzmittel (Analgetika), die ein zum Teil ein hohes Abhängigkeitsrisiko bergen. Opioidhaltige Schmerzmittel, die dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen, sind dabei ein geringeres Problem als vergleichsweise schwache, aber rezeptfreie Analgetika. Ihr Konsum hat in den vergangenen Jahren europaweit stark zugenommen. Eingesetzt werden diese Präparate vor allem gegen chronische Rücken- und Kopfschmerzen. Besonders schädigend wirken sich Schmerzmedikamente auf den Magen und die Niere aus. Die Folgen können eine Gastritis, Magengeschwüre und chronisches Nierenversagen sein. Die physische Abhängigkeit äußert sich darin, dass bei Absetzen des Medikamentes ein umso schlimmerer Schmerz auftritt (so genannter rebound-Effekt). Für die Selbstmedikation von nicht verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln gilt, dass diese nicht länger als drei Tage hintereinander und nicht häufiger als zehn Tage im Monat verwendet werden sollten.

Die Therapie der Medikamentenabhängigkeit
Leider unterziehen sich Medikamentenabhängige oft erst sehr spät, also bereits in einem chronifizierten Stadium, einer Behandlung ihrer Suchterkrankung. Die Betroffenen sind häufig schwer zugänglich und verhalten sich passiv. Entzugssymptome werden bagatellisiert oder die Kranken versuchen diese Symptome durch andere Mittel mit Suchtpotential - wie zum Beispiel Alkohol - zu kompensieren. Die Therapie muss natürlich höchst differenziert und genau abgestimmt sein - und sollte schon deshalb stationär erfolgen.

Der körperliche Entzug
Bei der Entgiftung des Körpers werden Entzugssymptome medikamentös gemildert. Dabei wird das Medikament, welches die Abhängigkeit verursacht hat, unter strenger Aufsicht durch andere Substanzen ersetzt und schrittweise reduziert. Bei optimalen Bedingungen sollte nach vierzehn Tagen bis drei Wochen der Entzug erfolgreich abgeschlossen sein.
Ist das aufgrund von Spannungszuständen, Angst, depressiven Erscheinungsbildern oder chronischen Schlafstörungen nicht möglich, dann sind die Mittel der Wahl Neuroleptika oder Antidepressiva.

Nach dem körperlichen Entzug bilden wiederum psychotherapeutische Maßnahmen das zweite, entscheidende Standbein der Therapie. Insgesamt dauert die Behandlung etwa 12 bis 16 Wochen. In der Nachbetreuung spielen auch bei dieser Sucht Selbsthilfegruppen eine wichtige Rolle.

Das Anton-Proksch-Institut (API) betreibt stationäre und ambulante Einrichtungen für Alkohol- und Medikamentenabhängige in Wien, Niederösterreich und im Burgenland und hat ein eigenes Therapieprogramm für Frauen entwickelt. Die Anmeldung kann über die Ambulanz der Frauenstation, jede Außenstelle des API, Ärzte und Ärztinnen oder ein Krankenhaus erfolgen.

Zurück zu Suchterkrankungen - Teil 2

Die Online-Infomappe der Sendung Radiodoktor - Medizin und Gesundheit ist ein Service der
Österreichischen Apothekerkammer und des Gesundheitsressorts der Stadt Wien