Tête-à-tête mit einem Naturereignis

Sonntags zum Vulkan

Was in aller Welt tue ich, mitten in der Nacht bei minus zehn Grad an einen steilen Abhang gekauert? Dasselbe wie einige Dutzend Isländer rings um mich: In die leuchtend rote Lava blicken, die am Berg vor uns hochspritzt und talwärts fließt.

Was für ein Empfang! Was für ein Beginn für ein halbes Jahr auf Island. In den Fernsehnachrichten rote Feuerfontänen in schwarzer Nacht, die ersten Bilder von einem neuen Vulkan, entstanden zwischen zwei Gletschern an der Südküste.

Wie man im Land von Feuer und Eis auf den Ernstfall reagiert: Schon in dieser Nacht, gerade erst hat man blitzschnell die Bauernhöfe im Umkreis evakuiert, steigen die ersten Reykjaviker ins Auto, um hin zu fahren.

Ein Begrüßungsgeschenk

"Ein hübscher, harmloser Touristenvulkan", sagt Óli, er ist Grafiker. "Den haben wir extra für euch eingerichtet". Die beliebte Wanderroute, an der er liegt, ist jetzt "the hottest trail in Iceland".

Der Ausbruch erscheint als willkommene Ablenkung vom letzten Ausbruch im Herbst 2008, das war jener der Wirtschaftskrise. Seit anderthalb Jahren Nachrichten von Arbeitslosigkeit und Sparmaßnahmen, Schuld und Schulden; öffentliche wie private Diskussionen darüber, wie es zum Beinahe-Ruin kam und wie es weitergehen wird.

So wird die lavaspuckende Erdspalte am Fimmvörduhals-Pass (inoffizieller Name der neuen Spitze: "Krisengipfel") gern zelebriert. Geophysiker erklären detailliert die unterirdischen Zusammenhänge. Anwohner berichten von der Räumungsaktion mitten in der Nacht; man zeigt Interviews mit Bauern, die sich nicht evakuieren ließen. Und täglich gibt es neue Aufnahmen von der brodelnd hochspritzenden Magma und dem schmalen Strom, der rotglühend den Berg hinabstürzt.

Neugier und Gelassenheit

Und dann - die Schaulustigen. Bei minus 18 Grad klettern sie auf dem Sattel herum, umkreisen das Spektakel mit Schneemobilen, Hubschraubern und Flugzeugen, werden selbst zum Theater. Ein merkwürdiges Verhältnis zu den Naturgewalten. Oder Folge tausendjährigen Ausgeliefertseins? Wenn der jetzt aktive, vergleichsweise kleine Vulkan einen Ausbruch unter dem nächstgelegenen Gletscher provoziert, so wie bisher jedes Mal seit der Besiedelung der Insel, drohen riesige Überschwemmungen. Man registriert es gelassen, was bleibt anderes übrig.

Ein Flugzeug muss notlanden; auch einige halb erfrorene Ausländer muss man retten, das ist nichts Besonderes, in Island ist man es gewohnt, Touristen aus Flüssen zu ziehen, von Gletschern und aus Sandstürmen zu bergen.

Lokalaugenschein bei Nacht

Schließlich erliegen auch wir der Verlockung. Am Abend des Palmsonntags fahren wir, wie schon ein paar Tausend Hauptstädter an diesem Wochenende, die zwei Stunden zum Vulkan. Sicherheitshalber, und bequemer, per Bus. Sehr nahe kommt man nicht, die Straßen sind weiträumig gesperrt. Wir erklettern eine Anhöhe, die bessere Aussicht verspricht.

So sitzen wir dann im Mondschein bei minus zehn Grad im schneidenden Wind, die Kamera in klammen, gefühllosen Fingern. Die Fernsehbilder aus dem Hubschrauber sind viel eindrucksvoller, die eigene Ausrüstung der Entfernung und den Lichtverhältnissen nicht gewachsen. Aber - es ist trotzdem ein ganz anderes Gefühl, vor Ort zu sein. Wann hat man schon, als Nicht-Isländer, so eine Gelegenheit zu etwas Ehrfurcht vor der Gewalt der Erde, tête-à-tête mit dem Vulkan?

Service

Einar Már Gudmundsson, "Wie man ein Land in den Abgrund führt. Die Geschichte von Islands Ruin", Hanser Verlag