Retrospektive des deutschen Expressionisten
Ernst Ludwig Kirchner
Die Arbeiten des Künstlers Ernst Ludwig Kirchner sind ein Besuchermagnet. Nun nimmt sich das Städel Museum in Frankfurt am Main eines der wichtigsten deutschen Expressionisten an. Bis 25. Juli zeigt das Haus eine Retrospektive, die annähernd 170 Werke des Malers, Grafikers und Bildhauers umfasst.
8. April 2017, 21:58
Kultur aktuell, 26.04.2010
Er hat eine kleine Ewigkeit daran gearbeitet, 1925 war es endlich fertig. Leuchtend gelb ist der Hintergrund der Leinwände, die ein Triptychon bilden. In der Mitte steigen drei nackte Damen aus einer blauen Badewanne, je eine nackte Frau steht auf dem linken und dem rechten Tableau. Ernst Ludwig Kirchner bezeichnet das Triptychon als eines seiner größten Werke. Im Städel ist es zum ersten Mal seit annähernd 80 Jahren wieder zu sehen.
Vor den Bilderreigen setzt die Retrospektive eine Wand mit Zitaten und Selbstporträts des Künstlers. Worte und Bilder verraten viel über den Menschen Ernst Ludwig Kirchner, der vor 130 Jahren in Aschaffenburg geboren wurde. Städel Direktor Max Hollein spricht von einem Mann voller Widersprüche: "Kirchner war ein großartiger, revolutionärer Künstler, aber eine hochkomplexe Person, ein Egozentriker, labil – sowohl psychisch als auch physisch. Er war ein schwieriger Mensch in einer sehr schwierigen Zeit."
Mädchen in erotischen Posen
In sechs Räumen mit grauen Wänden entwickelt die Schau das Schaffen des Autodidakten, der sich zunächst an van Gogh, Matisse und Munch orientiert. Um dann seinen Weg einzuschlagen, erzählt Kurator Felix Krämer.
Den Frühwerken folgt die expressive Zeit in Dresden, wo er die Künstlergruppe Brücke mitbegründet hat. Er experimentiert mit Formen und lässt in Posen abseits des tradierten Akademiebetriebs Modell stehen. Er nutzt die Unbefangenheit nackter Mädchen schamlos aus, selbstbewusste Liebhaberinnen malt er in Anlehnung an alte Meister. Zumindest der Katalog setzt sich damit kritisch auseinander. Sex und Erotik spielen bei Kirchner eine große Rolle, auch als er 1911 in die pulsierende Großstadt Berlin zieht.
"Sein Atelier in Berlin und auch vorher in Dresden war als so eine Art Sextempel ausstaffiert, sogar die Ofenkachel zeigten kopulierende Paare. Kirchner war in dem Zusammenhang schon ziemlich manisch", so Hollein.
Malstil wird poppiger
Die Hauptstadt des wilhelminischen Reichs ist ihm eine reiche Inspirationsquelle. Kirchners Formen werden eckig und spitz, Körper überlang und dünn, die Farben grell und geradezu giftig. Die Beziehung zwischen den Geschlechtern bekommt einen latent aggressiven Unterton. Die Straßenszenen, Begegnungen zwischen Prostituierten und Freiern gelten als die wichtigsten Arbeiten Kirchners. Sein neues Schönheitsideal wird die Tänzerin Erna Schilling, die bis zu seinem Selbstmord 1938 in Davos an seiner Seite bleibt.
Seelisch wie körperlich vom kurzen Kriegseinsatz gezeichnet, bringt er Szenen aus dem Soldatenleben ebenso auf die Leinwand wie Landschaften und eindringliche Porträts. Deutlich ruhiger und flächiger wird sein Stil als er sich in die Schweizer Bergwelt zurückzieht. Blau-, Grün- und Rosatöne dominieren die Farbskala. Und er bemalt Leinwände auf Vorder- und Rückseite.
Um 1925 verabschiedet sich Kirchner von der expressiv-gegenständlichen Malerei, seine Sprache wird dekorativer sowie kurviger, er beginnt intensiver zu abstrahieren, so Kurator Felix Krämer: "Das ist poppig und bunt, das sieht nach 50er, 60er Jahre aus."
"Ich staune über die Kraft meiner Bilder im Städel", hat Ernst Ludwig Kirchner im Dezember 1925 in sein Tagebuch geschrieben. Die Retrospektive im Haus Main, die erste in Deutschland seit 30 Jahren, macht es leicht, dieses Gefühl nachzuempfinden.