Roman von Justine Lévy
Schlechte Tochter
Gerade und schnörkellos beschreibt Justine Lévy das Sterben ihrer Mutter und das gleichzeitige Wachsen eines neuen Lebens in ihrem Bauch. Die Situation ist autobiografisch, Lévy lässt in ihr Buch aber auch Passagen einfließen, die ihrer Phantasie entsprungen sind.
8. April 2017, 21:58
Mama ist krank und ich habe die absurden Gelüste schwangerer Frauen, so sieht es aus. Mama leidet Höllenqualen und ich brauche unbedingt Tomaten, Essig, kandierte Zitronen, das ist das einzige, was zählt. Mama stirbt, und auf dem Weg zum Krankenhaus gehe ich in ein Geschäft und kaufe lauter gute Sachen, ich gehe ins Krankenhaus wie man in die Schule geht, ohne nachzudenken, aus Pflichtgefühl, aus Feigheit, manchmal schwänze ich auch. Mama wird sterben, es ist eine Frage von Monaten, vielleicht von Wochen oder Tagen, und ich bin nicht imstande, zu tun, was alle Mädchen der Welt an meiner Stelle getan haben, tun oder tun würden: es ihr sagen, ihr einfach nur sagen, Mama, es ist wunderbar, ein Kind, mein Kind, deins in gewisser Weise, der Frühling, ein Wunder.
Louise ist schwanger und erfährt gleichzeitig, dass ihre Mutter im Sterben liegt. Das ist zusammengefasst die Handlung von Justine Lévys neuem Roman, eine einfache Handlung, die trotzdem große Wirkung entfaltet. Tatsächlich hat die Autorin im Grunde nur ihre eigene Geschichte erzählt, eine Geschichte, in der Leben und Tod sehr eng beieinanderliegen:
"Die Worte waren deutlich in meinem Kopf auf und das wurde körperlich richtig unangenehm", erzählt Lévy. "Ich beschloss, sie aufzuschreiben, weil ich fühlte, dass ich unglücklich wäre, wenn ich es nicht täte. Ich glaube nicht an Gott, daher war es vielleicht notwendig, meine Mutter auf eine andere Art am Leben zu erhalten. Sie kommt in allen meinen Büchern vor, sie ist auch ein bisschen in den Gesichtern meiner Kinder. So kann ich sie ein wenig bei mir behalten."
Ausgangspunkt für eine Abrechnung
Das meiste von dem, was Justine Lévy beschreibt, ist streng autobiografisch. Wohl mag ihre Erzählerin Louise ein bisschen exaltierter sein als die Autorin selbst, ein wenig unbedachter, schließlich weigert sie sich lange Zeit, ihre Schwangerschaft zu berücksichtigen und auf Alkohol und Nikotin zu verzichten. Dennoch hat Justine Lévy nur in einigen Passagen ihre Phantasie spielen lassen:
"Wenn ich keine Erinnerung mehr daran hatte, was passiert war, habe ich etwas erfunden, dann es schien mir, als ob das Erfundene wahrer und aufrichtiger sei als die Wahrheit selbst."
Die Nachricht von der unheilbaren Krebserkrankung der Mutter ist für Louise der Ausgangspunkt für eine Abrechnung: mit den Eltern aber auch mit sich selbst. Sie denkt an die Zeiten zurück, in denen sie bei ihrer Mutter lebte, einer Mutter, die von den Alimenten, die sie vom Vater bekam, nicht etwa die Miete bezahlte, sondern Drogen kaufte oder großzügig Bekannte einlud, die vergaß, ihre Tochter von der Schule abzuholen und einen Job nach dem anderen verlor. Trotzdem hat Louise alias Justine das permanente Gefühl, ihre Mutter im Stich zu lassen, sie fürchtet, ihrer Verantwortung nicht gerecht werden zu können.
"Schlechte Tochter" hat Lévy ihren Roman genannt, denn das ist genau das Bild, das Louise von sich hat. "Die 'schlechte Tochter' im Roman ist mitunter ziemlich gemein", so Lévy. "Sie ist nicht sehr sympathisch, sie ist nicht freundlich zu denen, die freundlich zu ihr sind, sie ist extrem neurotisch und nicht immer liebenswert. 'Schlechte Tochter' also im Sinn einer ziemlich gemeinen Tochter, aber auch im Sinne der Tochter meiner Mutter. Ich denke, es gibt keine schlechte Mutter ohne eine schlechte Tochter, das ist eine zweiseitige Angelegenheit; eine schlechte Tochter bedingt auch eine schlechte Mutter. Es ist zu einfach, zu sagen, ich hatte eine schlechte Mutter, man ist immer für seine Eltern verantwortlich."
Schonungslos ehrlich
Während Louise fast jeden Tag ins Krankenhaus eilt, um ihrer sterbenden Mutter beizustehen, hat sie gleichzeitig mit ihrer Schwangerschaft zu kämpfen, mit Übelkeit und absonderlichen Gelüsten. Sie wagt nicht, ihrer Mutter von dem Kind zu erzählen und hat beinahe Angst vor dem kleinen Menschlein, das da in ihr heranwächst.
Meisterlich spiegelt Justine Lèvy den nahenden Tod im werdenden Leben, den Abschied von der Mutter in der Geburt ihrer Tochter. Dabei schildert sie Louises Schwangerschaft alles andere als romantisch, vielmehr schonungslos ehrlich - eben so, wie sie sie selbst erlebt hat:
"Ich hatte nicht etwas so Grausames erwartet, etwas, das so nahe an den Tod herankommt. Ich hatte viel über schwangere Frauen gelesen, aber das passte gar nicht zu dem, was ich erlebt habe. Ich hatte idyllische Dinge gelesen, tatsächlich aber hatte ich den Eindruck, dass Leben zu schenken sehr viel Schmerz bedeutet: der Schmerz der eigenen Kindheit, der Schmerz der eigenen Illusionen, der Idee, dass die Eltern und man selbst in einen neuen Lebensabschnitt eintreten. Die Schwangerschaft ist ein schwieriger, um nicht zu sagen harter Prozess und ich wollte darüber erzählen. Ich wollte erzählen, dass es wunderbar ist, schwanger zu sein, aber nicht immer und nicht ausschließlich. Und ich wollte über den Tod erzählen, ganz ungeschminkt, ohne Täuschung, ohne Maskerade und ohne Geschichten zu erfinden. Ich wollte die Wahrheit erzählen, darüber, was im Kopf der Heldin vorgeht, und ich habe mir vorgestellt, was im Kopf meiner Mutter angesichts ihres Todes vorging."
Die Dinge klar aussprechen
All dies beschreibt Justine Lèvy in ihrem geraden, offenen und schnörkellosen Stil. Mitunter lässt sie feine Ironie einfließen, wenn sie über ihre ungewöhnliche Mutter erzählt, die in Frankreich eine bekannte Persönlichkeit war, mehrmals auf dem Cover der "Vogue" erschien und zahlreiche Liebschaften mit Männern wie auch Frauen hatte. Lévy analysiert ihr Verhältnis zu dieser Mutter ohne jede Weinerlichkeit und ist gerade deshalb umso überzeugender.
"Ich mag es, wenn man die Dinge klar ausspricht", sagt Lévy. "Es ist mir lieber, zu sagen 'er ist tot' anstatt 'er ist hinübergegangen'. Ich mag es, wenn die Worte eine Bedeutung haben, man muss die Intensität dieser Worte erhalten. Zartgefühl ist eine Tugend im Leben und natürlich soll man die Leute nicht dauernd verletzen und vor den Kopf stoßen, aber ich glaube, vom künstlerischen Standpunkt betrachtet, sollte man nicht an den Dingen vorbeireden."
"Seltsame Schicksalsfügung"
Vielleicht ist die Geschichte, die Justine Lévy erzählt, nicht ungewöhnlich – aber ungewöhnlich ist ihr Umgang damit. Ihr Roman präsentiert sich schnell und klug, ehrlich und einfach und trotzdem mit bemerkenswertem Tiefgang. Sie habe nicht aus dem Leiden heraus geschrieben, meint Lévy selbst, vielmehr sei es ihr um eine nachträgliche Beurteilung der damaligen Geschehnisse gegangen - Geschehnisse, über die sie sogar heute noch mitunter staunt.
"Ich sehe diese Geschichte noch heute als seltsame Schicksalsfügung", meint Lévy. "Ich wollte das Leben beschreiben, das sich gegen den nahenden Tod verteidigt. Diesen Blickwinkel fand ich interessant. Nachdem ich das Buch geschrieben hatte, wurde mir bewusst, dass das eigentlich etwas ziemlich Banales ist, etwas, das in vielen Familien passiert, aber es hat mir auch gefallen, es so zu sehen, denn damit ist die Geschichte universell."
Service
Justine Lévy, "Schlechte Tochter", aus dem Französischen übersetzt von Claudia Steinitz, Kunstmann Verlag
Kunstmann Verlag - Schlechte Tochter