Eine Liebesgeschichte in Briefen

A und X

Eine zartherbe Liebesgeschichte von seltsamer Sprödigkeit hat John Berger da geschrieben, einen romantischen Guerrilero-Roman, der die Kraft der Imagination und der alle Grenzen überwindenden Liebe feiert.

In einem fernen Land

In seiner editorischen Vorbemerkung behauptet Berger, in den Besitz einiger Packen Briefe gekommen zu sein, die eine Frau namens A'ida an ihren im Gefängnis einsitzenden Geliebten geschrieben hat. Das Ganze spielt, so muss man vorausschicken, in einem fernen Land, in Lateinamerika möglicherweise, wo eine brutale Junta das Volk mit Waffengewalt unterjocht.

"In dem Augenblick, als sie Dir zweifach 'lebenslänglich" gaben, hörte ich auf, an ihre Zeit zu glauben", schreibt A'ida in einem ihrer Briefe an Xavier, der wegen "Terrorismus" in einer winzigen, 2,5 mal 3 Meter großen Zelle schmachtet. A'ida, von Beruf Apothekerin, fühlt sich dem Häftling Xavier in kompromissloser Liebe verbunden:

Wenn ich einen Brief von dir in der Hand halte, spüre ich als erstes Deine Wärme. Die gleiche Wärme liegt auch in deiner Stimme, wenn du singst. (...) Wir sind in der Zukunft. Nicht in der einen, von der wir so wenig wissen. In der anderen, die bereits begonnen hat. Wir sind in einer Zukunft, die unsere Namen trägt. Halte meine Hand. Ich küsse die Narben auf Deinem Handgelenk.

Gedanken auf der Rückseite

John Bergers Roman besteht im Wesentlichen aus A'idas Briefen an Xavier. Auf der Rückseite der Briefe allerdings, so die Herausgeberfiktion, hat Xavier kassiberhafte Kommentare und Gedanken notiert. Die Xavierschen Notate - in Kursivschrift gesetzt - umfassen vielleicht fünf Prozent des Romans. Neben globalisierungskritischen Reflexionen finden sich hier auch Vermerke wie dieser:

Um den Himmel zu sehen, klettere ich auf die Pritsche. Er erinnert an das, was man von Zeit zu Zeit vergisst - z.B., dass die Private-Equity-Fonds, die heute für Spekulationen zur Verfügung stehen, zwanzigmal so viel wert sind wie das Bruttosozialprodukt der ganzen Welt.

Der Wind, den sanft die Wolken sichtbar machen, genügt schon als Andeutung, wie schnell die Zeit solcher Illusionen verrinnt.

Erzählen vom Alltag

Es ist ein militarisiertes Anti-Utopia, in dem John Bergers Roman spielt. Um den modellhaften Charakter des Geschehens zu unterstreichen, operiert der Autor mit spanischen, arabischen und türkischen Eigennamen. Ganz klar lokalisierbar ist also nicht, wo der Roman spielt.

A'ida nützt den brieflichen Kontakt zum Geliebten, um Xavier vom Leben außerhalb der Kerkermauern zu berichten, von ihren Gefühlen für ihn, von ihrem Alltag und den politischen Ereignissen. A'ida erzählt aber auch von Freunden und Bekannten: von Ved, ihrem Nachbarn, dem einsamen Alteisensammler; von Soko, deren Neffe spurlos verschwunden ist und die dringend am Star operiert werden müsste, wenn sie es sich leisten könnte; und von Gassan, dem pensionierten Friseur, dem nach dem Tod seiner Frau nur mehr die Leidenschaft fürs Blumenzüchten geblieben ist. In ihren nicht-abgeschickten Briefen, die Herausgeber John Berger ebenso sichergestellt zu haben behauptet, berichtet A'ida auch von Übergriffen der bewaffneten Staatsmacht.

Am letzten Mittwoch gegen Ende des Tages kamen sie (...) Genau in dem Augenblick, da sich die Leute nach der Arbeit sagen: Jetzt ist es vorbei. (...) bloß keine Hetze (...) nimm's leicht.

Durchsuchung, Verhör, Terror - deswegen waren sie gekommen. Zu viele, als dass man sie hätte zählen können. Jeder mit Gewehr und Granaten. (...) Sie trennten uns in Gruppen: Männer und Frauen, Alte und Gefahrenquellen. Ich war froh, immer noch zu den Gefährlichen zu gehören.

Zahlreiche Anspielungen

John Berger, der altgediente Polit-Romancier mit deutlichem Hang zur Melancholie, operiert mit reichlich Guerillero- und Polit-Romantik in seinem Roman. Dazu kommen zahlreiche Anspielungen religiöser und biblischer Natur. So berichtet A'ida an prominenter Stelle von einem Rosenstrauch, einem der gebräuchlichsten Mariensymbole, und das X, das nicht nur im Romantitel für den Gefängnis-Insassen Xavier steht, ist das zentrale griechische Symbol für "Christus". Dass Xavier überdies Stigmata an den Händen trägt, macht die Sache schon fast überdeutlich.

Eine mitreißende, begeisternde Lektüre ist "A und X" nicht. Aber der Roman hat seine Qualitäten. Vieles bleibt im kunstvoll Vagen, Angedeuteten, was dem Werk, im Verein mit den gelehrten Verweisen auf Kunst- und Religionsgeschichte, eine gewisse Vielschichtigkeit verleiht. "Wo immer Xavier und A'ida heute auch sind, tot oder lebendig, Gott sei ihren Schatten gnädig", schreibt John Berger. Der 84-jährige Brite hat einen Roman von herber, eigenwilliger Schönheit geschrieben.

Service

John Berger: "A und X. Eine Liebesgeschichte in Briefen", aus dem Englischen übersetzt von Hans Jürgen Balmes, Hanser Verlag

Hanser - John Berger