Von Marion P.
Flipper - Teil 1
Die Frau, die gerade Vater und Mutter verlassen hatte, liegt in einer Ackerfurche. Nachdem der säende Bauer sein Handwerk verrichtet hat liegt sie "offen" da, "erneut offen für die Welt". Für jene Welt, in der gemordet und gebombt wird, in der Dunkelhäutige von Skinheads malträtiert und Frauen massenhaft auf dem Dorfplatz vergewaltigt werden.
8. April 2017, 21:58
Ich habe gerade Mutter und Vater verlassen. Vor dem Weggehen hat mir die Mutter zur Sicherheit noch einen Biss vom Bildungsspeck und einen Schluck aus der Sprichwörterflasche aufgedrängt und obwohl ich das alles intus und über hatte, habe ich gegessen und getrunken, weil sie es sich so sehr gewünscht und an die Nützlichkeit geglaubt hat. Erst der Schluck aus der Sprichwörterflasche – Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein; Wie du mir, so ich dir; Reden ist Silber, Schweigen ist Gold; Über das Reden kommen die Leute zusammen; Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste; Wer nicht wagt, der nicht gewinnt; Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus; Wo kein Kläger, da kein Richter; Was du nicht willst, dass man dir tut, das tu auch keinem anderen; Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr; Wer zahlt, schafft an; Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm;...
Das Volk hat seine Weisheit in unzählige Sprichwörter gegossen, die sich auch widersprechen. Soll man reden oder soll man schweigen? Soll man wagen oder vorsichtig sein? Und dann der Biss vom Bildungsspeck, den ich wirklich über Jahre und zur Genüge genossen hatte. Ich kann ihn keinesfalls zur Gänze in seine Einzelteile zerlegen, aber manche Stränge vermag ich zu nennen – Die Kinder der Aufklärung benützen ihre Vernunft, aber weil sie überdies Kinder der Romantik sind, verlassen sie sich auch auf ihre Natur, ihre Instinkte; der Widerstreit von Aufklärung und Romantik also auch erfolgreich in meiner Person installiert. Den Nationalsozialismus der monströsen Vorfahren habe ich ablehnen, aber ich fürchte zu wenig verstehen gelernt, um wirklich seinen Anfängen wehren zu können, denn ich bin ja kein Monstrum. Ich würde nie ein Dirndl tragen oder Volksmusik hören, auch wegen der monströsen Vorfahren. Der heilige Martin ist im Bildungsspeck drinnen, an dessen Geste des Starken zum Schwachen wir uns halten sollen, das wird bereits den Kleinen im Kindergarten eingetrichtert, aber ich habe den Verdacht, dass sich keiner an ihm orientiert und das auch von den Kindern nicht wirklich erwartet wird, denn nur die Harten kommen durch.
Das Christentum mit diesem heiligen Martin und der Bergpredigt steuert eine sehr hohe Ethik bei, die ich gehört habe. Und auch die Märchen wurden mir erzählt, die eine grausame und wahrscheinlich wahre Welt beschreiben; die Königin, die nicht altern kann und dem nachwachsenden Schneewittchen ans Leben möchte, die schwache Liebe der Väter, die nicht gegen die Stiefmütter verteidigen, die Lieblingskinder, die es zuhause leichter haben, aber dafür im Leben nicht belohnt werden... Darwins Evolution. Freud, der dem Menschen eine der drei großen Kränkungen zugefügt und ihm das Unbewusste bewusst gemacht hat. Physik, Chemie und Mathematik, aber da haben sie mich nicht dort abgeholt, wo ich gestanden bin und diese Bissen habe ich leider unverdaut wieder ausgeschieden und das Klo hinuntergespült... Im letzten Moment hat mir die Mutter noch ein Sparbuch in die Jackentasche gleiten lassen, einen Notgroschen hat sie gesagt. Ich habe sie umarmt und bin gegangen, Mach dir keine Sorgen, es wird schon gut gehen.
Ich habe gerade Vater und Muter verlassen und nun gehe ich des Weges. Es ist ein Frühlingstag voller typischer Merkmale. Die Vögel tratschen unablässig in den Lüften, ein Tratsch, der mir lediglich Klang ist, aber um nichts in der Welt wollte ich diesen wunderschönen Klanghimmel gegen Verständnis eintauschen. Ein sanfter Wind geht in den Bäumen herum und lässt die Blätter rauschen. Helles, warmes Sonnenlicht fällt auf die Erde und alles, was lebt, strebt, dieses Licht und diese Wärme einzufangen, überall Menschengesichter, die mit geschlossenen Augen zur Sonne gewendet sind. Hellgrüner Grasnachwuchs, weiße Gänseblümchen und gelber Löwenzahn treiben aus der Erde. Die Kinder spielen auf den abschüssigen Wiesen Butterwalken und lassen ihre Körper hinunterrollen und lachen. Allerorten flattert frisch gewaschene Wäsche im Wind. Der Acker ist bereit, die Saat zu empfangen und zu nähren. Verheißung liegt in der Atmosphäre, Kraft zu werden. Was soll ich sagen? An einem solchen Frühlingstag lebt es sich mühelos und freudvoll und alles ist ein Genuss. Auch ich spüre Kraft auszutreiben und unendlichen Willen, diese unendlich scheinende Kraft anzuwenden. Ich bin Frühling, ja ich bin Frühling.
Ich lege mich auf den Tiefpunkt einer der unzähligen Falten, die der Pflug in den glatten Acker gerissen hat, damit er die neue Saat empfangen kann, fruchtbarer Schoß. Auch ich möchte Frucht treiben und bin aufgeraut und geöffnet wie ich nur rau und offen sein kann. Die Augenlider liegen zurückgeklappt in ihren Höhlen und die Sehfläche ist vollkommen entblößt, das Riechepithel nach außen gestülpt, die Zunge zur Gänze freigelegt, das Trommelfell auf Übersetzung lauernd, jeder Quadratmillimeter meiner Haut nackt, der Geist entleert, ja ich habe mich aufgemacht, wie ich mich nur aufmachen kann, mehr weiß ich nicht, kann sein, nein kann nicht nur sein, sondern wird sogar sicher sein, wird hoffentlich sicher sein, dass ich noch mehr lerne, denn ich bin furchtbar neugierig auf die Welt, aber für den Moment weiß ich nicht mehr. Ich bin aufgeraut und geöffnet wie ich nur rau und offen sein kann. Die Sonne wirft ihr warmes Licht auf mich. Leicht bewegte Luft streichelt mich. Spinnen spannen zwischen den Ackerfalten ihre Netze, die unter der leicht bewegten Luft erzittern; wenn du deinen Blick scharf über den Acker gleiten lässt, wirst du ein sanft wogendes Zittermeer wahrnehmen.
Eine Schar Krähen landet im Sturzflug und schwarze Schnäbel beginnen in den Falten nach Nahrung zu suchen und zerren ab und zu einen Regenwurm aus der Erde und wollen Erbeutetes streitig machen. Zwei Rehe sprengen heran und lassen sich sonnen und grasen auf der benachbarten Wiese. Es ist ein guter Moment, ja wirklich es ist ein guter Moment, gegen dessen Perpetuierung in alle Ewigkeit nichts einzuwenden wäre, und ich denke, Augenblick bleibe, ja bitte perpetuiere dich, du bist schön, du bist sehr schön, Faust müsste paktgemäß mit dem Teufel ziehen, aber ich bin nicht Faust und bleibe liegen, Mephisto hat keine Chance. (Ja, Goethes Faust war auch im Bildungsspeck enthalten!)
Ich bleibe liegen und gebe mich inneren Gesprächen hin und wie ich so innen spreche, bahnt sich etwas an und lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Der Erdboden unter mir beginnt leicht zu beben und immer stärker und stärker. Irgendetwas zerreißt den gewundenen Strick der Ruhe, der so schön vom Himmel über dem Acker baumelt. Als die erste Faser reißt, strecken die Rehe ihre Sinne aufmerksam in den Raum und springen unmittelbar darauf davon. Als die zweite Faser durchreißt, verlassen die Spinnen die exponierten Stellen ihrer Netze und verkriechen sich in kleine Höhlen der Ackerfalten. Und als die Ruhe nur mehr an einem seidenen Faden hängt, heben sich die Krähen mit Flügelschlägen in die Lüfte, hinterlassen einen lauten Tonrest am Himmel, der auf mich hernieder purzelt, und sind kaum mehr zu sehen.
Die Blumen der benachbarten Wiese schließen ihre Blütenblätter. Alle, die leben, lassen Wasser in die um sie gezogenen Gräben laufen, ziehen die Brücken in die Höhe und schließen die Tore wie eine Stadt im Mittelalter, da feindliche Truppen zum Ansturm blasen. Nur ich treffe keine einzige Sicherheitsvorkehrung und bleibe aufgeraut und offen liegen. Ich überlege noch, ob ich auch gehen soll, aber ich bleibe liegen, ich sehe keinen Feind. Die Erde bebt immer stärker und ich schwappe von Falte zu Falte und falle beinahe vom Ackerbett auf die Straße.
Der Strick ist längst durchgerissen. Da sehe ich die Quelle des Bebens. Der Bauer. Er lässt seine Füße in den Boden fahren wie ein Schmied den Hammer in den Amboss. Die Erde bebt unter den geschluckten Tritten des Bauern. Die Erde hat hart zu schlucken, eine Erschütterung bis in ihren Kern. Unmittelbar vor mir schließt der Bauer die Gabel seiner Beine (- wird ein Twini; kennt einer dieses Eis meiner Kindheit, das aus zwei langen zusammenklebenden Fingern besteht und gerne von Müttern mit zwei Kindern gekauft wird, weil sie dann jedem ihrer Kleinen einen Finger geben und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann? -) und der Boden kommt langsam zur Ruhe.
Der Bauer hat die Form eines gedrungenen Kastens, auf dem ein hässlicher Kopfknauf prangt, ein Kasten zum Fürchten aber noch hoffe ich, denn die Bauern sind doch mit ihren Produkten Lebenserhalter – Getreide, Milch, Eier und was weiß der Kuckuck noch, warum sollte er dieses Prinzip der Lebenserhaltung nicht auch bei mir anwenden? Der Bauer betrachtet mit einem stolzen, herrischen Blick sein Feld, sein Eigentum. Des Bauern rechte klobige Hand, deren Empfinden tausendmal abgekocht und ausgekocht worden ist, löst sich aus dem Kastensystem, fasst in die Tasche, die er sich um die Hüfte geschürzt hat, taucht als Faust, die angefüllt ist wie die Backe eines Hamsters, wieder empor und wirft die Körner des Lebens großzügig auf meinen Leib, erst ist es ein streichelndes angenehmes Gefühl gleich einer Massage, aber bald ein harter Regen und Hagel, der mir blaue Flecken und blutige Stellen schlägt, sodass ich mich zum Schutz meiner heiklen Vorderseite auf diese drehe und in die Ackerfalte presse.
Ich suche mir verzweifelt ein schützendes Loch zu graben. Auf diesen Moment war ich nicht vorbereitet und auch nicht vorbereitet worden. Da reißen mich des Bauernkasten tausendmal abgekochte und ausgekochte Hände vom Boden, richten mich auf wie eine Vogelscheuche, uns entgehst du nicht, und stopfen mir die Körner des Lebens in sämtliche Leiböffnungen und immer mehr und mehr. Als er sich die Öffnung zwischen meinen Beinansätzen vornimmt, ja nun ist es offenbar, ich habe ein Loch zwischen den Beinen, ich bin eine Frau, fasst er sich kurz an seinen Schwanz und ist versucht, mir etwas anderes als die Körner des Lebens hineinzustecken, aber er beherrscht sich, schließlich ist helllichter Tag, was wenn jemand vorbeikommt.
Als nichts mehr geht und mir die Körner schon überall hinausquellen, stampft er das Bisschen Luft, das sich zwischen den in mich gefüllten Körnern gehalten hat, hinaus und dann geht noch etwas, einmal haben wir noch immer geschafft. Er füllt mich wie die Bäuerin eine Gans, die sie ihrer großen Familie zu Martini auf den Sonntagstisch stellen möchte, wie ein japanischer Stopfbeamte die Untergrundbahn, die der organisch wachsenden Stadt nur hartes Material entgegensetzen kann. Da geht noch etwas, einmal haben wir immer noch geschafft, zischelt er vor sich hin und stopft und presst, da geht noch etwas, einmal haben wir noch immer geschafft, und stopft, da muss doch noch etwas gehen, einmal haben wir doch immer noch geschafft, das wäre ja gelacht, und stopft.
Als ich voll bin, wie ich nur voll sein kann, noch ein Korn mehr und meine Seitennähte gingen auf und ich wäre tot, der Bauernkasten weiß genau, wie weit er gehen kann, wirft er mich zurück in die Ackerfurche, von der er mich genommen hat, und geht zur Bäuerin, die schon die Kinder – kleine Bauernkästen, deren Hände noch nicht so abgekocht sind – geschickt hat, weil der Sonntagsbraten auf dem Tisch steht und dampft, Papa, Papa, rufen sie, hör auf mit dem Säen und komm, das Essen steht schon auf dem Tisch, es gibt Schweinsbraten. Der Bauer wendet sich mit einem Lächeln seinen Kindern zu – Hey, er kann lächeln! – und sie gehen nach Hause.