Israels Abzug 2005 und die Folgen

Gaza: Wie der Aufstieg der Hamas begann

Vor fünf Jahren ist Israel mit seinen Siedlern und Soldaten aus dem Gazastreifen abgezogen. Mittlerweile hat die radikal-islamische Hamas das Gebiet fest im Griff. Politiker, Experten und Publizisten machen dafür vor allem den damaligen Regierungschef Ariel Sharon verantwortlich, der nach einem Schlaganfall seit Jahren im Koma liegt.

Mittagsjournal, 14.08.2010

Unerwarteter Schwenk

Sharon hat für viele überraschend dem internationalen Druck nachgegeben und die jahrzehntelange Präsenz von etwa 8.000 jüdischen Siedlern unter 1,5 Millionen Palästinensern beendet, mit Folgen, die die Nahost-Politik noch heute bestimmen. Israel gab den 45 Kilometer und zehn Kilometer breiten Gazastreifen auf, den es im Sechs-Tage-Krieg 1967 erobert hat. "Land für Frieden" war die Parole. Ausgegeben hat sie ausgerechnet jener Mann, den die Siedler als ihren Schutzherrn verehrt haben - und plötzlich ist Ariel Sharon ihr ärgster Feind geworden.

Friedenswunsch oder Schachzug?

Über Sharons Motive wird viel gerätselt. Er selbst wollte nach eigener Aussage die Reibung zwischen Israelis und Palästinensern auf ein Minimum reduzieren. War es strategische Finesse, Opportunismus, einfach der Wunsch nach Frieden oder gar ein böser Schachzug? Sumaya Farhat Naser, Professorin an der Birzeit Universität im Westjordanland und palästinensische Aktivistin, vermutet, dass er damit die Kluft noch vertiefen wollte.

"Immer nur Feinde"

Für Tom Segev, israelischer Journalist und Historiker ist es ganz einfach: Sharon habe "als General" eingesehen, dass diese "Front" nicht zu halten sei und der Rückzug aus Gaza Israels Position in der Westbank stärken könnte. Manche Vorwürfe gegen Sharon und seine Regierung hält Segev für durchaus gerechtfertigt. Man habe die Siedler nach dem Abzug in Stich gelassen, sie behandelt wie manche Versicherungsgesellschaft ihre Klienten. Besonders kritisiert Segev aber, dass der Regierungschef die Palästinenser nicht in seine Überlegungen einbezogen und mit ihnen abgestimmt hat. "Für Sharon waren die Palästinenser immer nur Feinde."

Hamas unterschätzt

Auch Farhat Naser kritisiert den Alleingang Israels. Im ersten Jubel über den Abzug habe man übersehen, wie sich die Hamas an die Macht putschen konnte. Tatsächlich beginnt der Aufstieg der Hamas nicht lange nach dem Abzug der Israelis aus dem Gazastreifen. Geschickt suggeriert sie der Bevölkerung, dass sich Terror bezahlt macht, zugleich punktet sie mit großem sozialen Engagement. Ihre Alleinregierung nach dem Wahlsieg im Jänner 2006 wird vom Westen nicht anerkannt.

Hatte Sharon doch Recht?

Für Israel, die USA und die EU ist die Hamas eine terroristische Organisation, was nach Ansicht Farhat Nasers dazu geführt hat, dass die Hamas dann gezwungen war, "sich mit dem Teufel zu alliieren". Derzeit sitzt die Hamas im Gazastreifen fest im Sattel. Sie hat eine islamistische Gesellschaft geschaffen. Oppositionelle schaltet sie einfach aus. Rückblickend scheinen alle Recht zu bekommen, die vor den negativen Folgen eines einseitigen Abzugs Israels gewarnt haben. Aber Tom Segev gibt zu bedenken, dass ohnehin "irgendwann" das Land so geteilt werden müsse, dass Israelis und Palästinenser in ihren jeweiligen Gebieten leben. "Und es kann schon einmal eine Zeit kommen, in der man sagt, dass Sharon das Richtige getan hat." Als Historiker weiß Tom Segev, wie sehr sich ein Geschichtsbild ändern kann.

Übersicht

  • Naher Osten