von Milos Wächter

ausbrechen, Kapitel 8-12

8
Je näher sie der Klippe kamen, umso mehr trat Herr C aufs Gas, raste gefährlich schnell um die Kurven, nutzte, ohne an möglichen Gegenverkehr zu denken, die ganze Fahrbahn aus. Frau M krallte sich am Autositz fest, wagte es aber nicht, ihn einzubremsen.

Zu ihrem Glück waren die Straßen des Finistère, dem westlichsten Departement der Bretagne, fast völlig leer. Braune Hinweisschilder kündigten immer wieder die Touristenattraktion Pointe du Raz an. "Jetzt kann es sich nur noch um Minuten handeln!", rief Herr C enthusiastisch und ließ den Motor aufheulen. Seine Beifahrerin hatte große Mühe, bei der rasanten Fahrweise die Karte zu lesen.

9.

Kurz nach fünf Uhr Früh wurden Valerie und Alex unsanft von ihrem Reisewecker aus den Träumen gerissen. Sie hatten ihre Schlafsäcke zusammengeschlossen und waren die ganze Nacht fest umschlungen in ihrem Zelt gelegen, friedlich aneinander gekuschelt, als könnte nichts auf der Welt sie trennen. Sie blinzelten sich an und küssten sich. Valerie krabbelte als erste aus dem Zelt, atmete die kühle Nachtluft ein und schaute in den wolkenlosen Himmel. Die Sonne würde in knapp zwei Stunden aufgehen, aber schon jetzt war der Himmel erstaunlich hell, es waren nur noch wenige Sterne am Firmament auszumachen. Alex gesellte sich zu ihr, sie umarmten sich innig, dann fingen sie geschäftig und wortkarg an, das Zelt zusammenzupacken und ihr Gepäck wieder im Gebüsch zu verstecken. Als sie fertig waren, spazierten sie Hand in Hand zum Strand hinunter und dann zur Pointe du Raz hinauf. Sie waren nicht die ersten. Etwa ein Duzend junger Menschen aus ganz Europa stand bereits zerstreut am Beginn der schroffen Felsklippe herum, dort, wo die große Warntafel angebracht war. Es wurde kaum gesprochen, wohl aber musterten die Selbstmordkandidaten einander eindringlich, als konnte man von den lebensmüden Gesicherten die Geschichte der jeweiligen Person ablesen. Nur eine Minderheit starrte lethargisch ins Leere, wie unausgeschlafene Pendler am Bahnsteig eines Provinzbahnhofes. Sinnentleerte Zeitgenossen. Immer mehr trudelten ein und wechselten ein paar knappe Begrüßungsworte mit den anderen. Die häufigste Frage war die nach dem Nickname, dem im Forum verwendeten Pseudonym. Alex hatte sich als "Incinerator" angemeldet, aber nie etwas gepostet. Ihm erschienen Onlinediskussionen generell überflüssig und peinlich.

Die Gruppe war sehr heterogen. Abgesehen davon, dass niemand älter als 25 war, hatten sie wenig gemeinsam, außer den vielen Stunden, die sie im Internet verbrachten, und dem Wunsch, kollektiv in den Freitod zu springen. Einige der Anwesenden trugen nur Schwarz und waren wie lebende Tote geschminkt. Andere wiederum waren in bunten, zerrissenen Pullovern und Jeans gekommen und hatten ebenso bunte und schräge Frisuren. Die meisten aber sahen alltäglich aus, waren unauffällig gekleidet, unscheinbare junge Menschen wie man sie tagtäglich übersieht. Menschen mit leichtem Grauschleier, die in der Neonreklamewelt schwer wahrzunehmen sind. Zwei Mädchen saßen auf einem Felsen, teilten sich einen Joint und boten den Umstehenden an, mitzurauchen. Der pickelige Junge, den Alex und Valerie schon am Vortag gesehen hatten, stand abseits und kaute an seinen Fingernägeln. Immer wieder tauchte die Frage auf, ob schon jemand "Kengel" gesehen hätte. Alex wusste, dass das der Spitzname des Teilnehmers "kEinEngel000" war. Die Idee mit dem Suizidtreffen war von ihm ausgegangen, er war also gewissermaßen der Organisator dieser one-way Reisegruppe. Erst als schon etwa 30 Leute bei der Tafel standen, tauchte er auf: ein großer, schlanker Student aus Leipzig, barfuß und ganz in Weiß gekleidet – weiße Hose, weißes Hemd, weißes Sakko. Elegant, aber doch leger, weil die Sachen aus sehr dünnem Stoff waren und stimmungsvoll im Wind flatterten. Wie eine Erlöserfigur schien er auf sie zuzuschweben, als er mit weiten Schritten und mildem Lächeln langsam auf sie zukam. Eine Weile sah er sich einfach nur schweigend um, streifte sich hin und wieder eine blonde Strähne aus dem Gesicht, die der Ozeanwind sofort wieder vor seinen Augen hin und hertanzen ließ und atmete tief die frische Meeresluft ein. An seinen Handgelenken prangten kreisrunde Brandwündchen. "Bist du Kengel?", wurde er von einem der kiffenden Mädchen gefragt. Er nickte und begann zu sprechen – laut, sodass ihn alle hören konnten, aber gleichzeitig sehr sanft: "Danke, dass ihr hier seid. Ich bin sehr froh, nicht allein hier stehen zu müssen." Er machte eine lange Pause und schaute auf die Uhr. "In einer Viertelstunde geht die Sonne auf. Warten wir noch kurz, ob jemand kommt, und dann gehen wir, in Ordnung?" Da niemand antwortete, nickte sich Kengel selbst zu und steckte die Hände in die Hosentaschen. Alex war ein wenig irritiert. Im Gegensatz zu fast allen anderen, die etwa pessimistisches, depressives, melancholisches oder zumindest abgelebtes an sich hatten, sah Kengel recht hoffnungsfroh aus, jedenfalls nicht wie jemand, der Selbstmordgedanken hegte. Eher wie jemand, der kurz davor war, eine große Tat zu vollbringen. Jedenfalls steigerte Kengel noch mehr die bizarre Vielfalt der schweigsamen Versammlung. Er ließ sich von den Kifferinnen den Joint reichen, ging nachdenklich ein paar Schritte auf und ab, blickte eine Weile in den Atlantik hinaus und ergriff dann wieder das Wort: "Ich denke, wir können gehen." Damit schritt er an der Warntafel vorbei und fing an, den anspruchsvollen Pfad zur Spitze der Landzunge entlang zu schreiten. Die Gruppe folgte ihm. Alex und Valerie lächelten flüchtig, drückten sich fest die Hände und reihten sich ein. An der Spitze angekommen wurde es recht eng auf der kleinen Plattform, von der aus die Touristen normalerweise ihre Fotos vom Leuchtturm und der hochspritzenden Gischt schossen. Einige kletterten ein bisschen nach unten und zur Seite – nur noch wenige Zentimeter trennte sie jetzt vom Tod. Unten donnerten die Wellen gegen die Granitspitzen.

10.

Valerie stellte sich etwas erschöpft vor den Badezimmerspiegel. Sie schaute durch ihr ernstes Spiegelbild hindurch und sah schemenhaft im Schnelldurchlauf all die Leute, die ihr und ihrer Mutter zum schönen Klavierspiel gratuliert hatten. Meist wusste sie gar nicht, wer die Leute waren, die anderen kannte sie auch nur flüchtig, allesamt wichtige Leute in der Stadt, in deren Mitte ihre Mutter wie immer an diesen Abenden regelrecht aufgeblüht war. Valerie fixierte ihre kleinen Pupillen und atmete tief ein und aus. Sie schwitzte unter dem Kropfband. Ohne nachzudenken fuhr sie mit dem Zeigefinger unter den Samtstoff und begann an dem Band zu ziehen, immer fester, bis plötzlich der Metallverschluss in ihrem Nacken riss und in mehreren Teilen auf die Badezimmerfliesen sprang. Valerie hob das Band vom Boden auf und sah es nachdenklich an. Dann verschloss sie es in ihrer Faust, ging in ihr Zimmer, öffnete eine Schreibtischschublade, verstaute das Band und nahm ihr Tagebuch heraus.

11.

Auf dem nächsten Hinweisschild waren zwei "Pointes" angeschrieben: die berühmte Pointe du Raz, und die weniger spektakuläre Pointe du Van, die bei weitem nicht so oft auf Verkehrsschildern erwähnt wurde wie ihre Nachbarin. Herr C raste derart schnell, dass er nur die Hälfte des Schildes lesen konnte und abbog – zur falschen Landzunge. Frau M war zu sehr damit beschäftigt, sich irgendwo festzuhalten, um den Fehler zu bemerken, und so rasten sie auf jenen Parkplatz zu, bei dem kurz zuvor Valerie und Alex ihr Zelt abgebaut hatten. Herr C stieg auf die Bremse; der Wagen schlitterte ein wenig auf dem Schotter dahin, bevor er stehen blieb. Er schenkte Frau M, die erschrocken kreischte, keine Beachtung, sondern stürzte aus dem Auto und folgte den Holzpfeilen, auf die schlicht "Pointe" eingraviert war. Ein Feldweg führte ihn durch hohe Büsche und Wildblumen. Bald lag vor ihm das Meer, aber anstatt der erwarteten schroffen Felsklippe stand er inmitten einer Heidelandschaft, die zwar abrupt mit einer steinernen Klippe endete, aber nichts mit den imposanten Bildern gemein hatte, die er von der Pointe du Raz gesehen hatte. Der Wanderweg führte zur Seite anstatt zum Meer, also rannte er einfach durchs Gras nach vorne, bis zu dem Punkt, an dem die Landzunge schließlich unüberwindbar felsig wurde. Herr C musste einsehen, dass das nicht die richtige Klippe sein konnte. Verzweifelt sah er sich um. Zu seiner Rechten stand ein Kirchlein verlassen in der Wiese, der halb verfallene Turm leuchtete orange von den ersten Sonnenstrahlen. Zu seiner Linken konnte er eine Bucht mit Sandstrand ausmachen – und eine weitere Landzunge, in etwa zwei Kilometern Entfernung. Entsetzt riss er die Augen auf, als sein Blick auf den vorderen Teil der felsigen Klippe fiel. "Warte! Warte! Wir sind falsch! Komm zurück, wir sind falsch!", rief Frau M vom Parkplatz her. Sie lief ihm wild mit dem Plan gestikulierend entgegen. Er reagierte nicht, sondern starrte weiter wie gebannt auf die gegenüberliegende Klippe. Sie blieb verblüfft stehen und folgte seinem Blick. Dann entglitt ihr die Karte. Auf der Felsklippe war eine Gruppe von Menschen auszumachen. Genau in diesem Moment rannten sie wie kleine Punkte auf den Abgrund zu und stürzten nach allen Seiten in die Tiefe.

Der Anblick hatte etwas Unwirkliches. Ohne jedes Geräusch fielen die winzigen, anonymen Gestalten hinunter in den Tod. Manche streiften sichtlich an der Felswand bevor sie von ihr weggeschleudert wurden und im Ozean landeten. Manche sprangen zu mehrt, manche allein. Manche gestikulierten wild, bevor sie starben. Zu hören war nur das Rauschen des Ozeans. Dann war alles vorbei und die Klippe wieder leer.

Frau C sank auf die Knie. Tränen rannen über ihre Wangen. Sie stieß ein paar Entsetzensschreie aus, hielt sich verzweifelt an ein paar Grasbüscheln fest, doch das milderte nicht das Gefühl, die Welt, ihr Leben, einfach alles würde davonbröseln. Mit letzter Kraft hielt sie den Blick auf die Klippe gerichtet – es war vorbei, sie waren zu spät gekommen.

Herr C stand wortlos da und starrte perplex zum Ort des Geschehens. Er konnte es nicht glauben. Um Sekunden verpasst! Hätten sie weniger Stopps gemacht, wäre er ein bisschen schneller gefahren, hätte er sich nicht bei der letzten Abzweigung geirrt, wäre er früher aufgebrochen... er wäre rechtzeitig da gewesen, um Valerie aufzuhalten. Das war so schmerzhaft bitter, dass ihn das Schwächegefühl der Lebensmüdigkeit überkam. Hatte ihm der Versuch, seine Tochter rechtzeitig zu finden, neues Leben in seinen Alltagstrott eingehaucht, so hatte ihn nun dieser Anblick jeglicher Lebensfreude beraubt. Er blieb noch eine Weile reglos stehen, als wäre sein Körper eine leere Hülle, deren Geist mit den Selbstmördern von der Klippe in den Tod gesprungen war.

Irgendwann trottete er zu Frau M zurück und ließ sich zu ihr auf den Boden sinken. Sie fiel ihm schluchzend in die Arme. Er streichelte ihr über den Rücken, war aber zu verbittert, um tröstende Worte zu finden. Ihm schossen plötzlich all die Dinge durch den Kopf, die in seinem und Valeries Leben schief gelaufen waren, und ein stumpfer Hass machte sich in ihm breit, auf seine Frau, auf seine Firma; vor allem auf sich selbst und seinen blinden Karrierewahn.

12.

Der obere Rand der Sonne tauchte zwischen den Hügeln hinter ihnen auf, als Kengel mit lauter Stimme zur Gruppe sprach: "Wie gesagt, danke fürs Kommen. Viele von uns hätten alleine nicht den Mut, in den Freitod zu gehen. Ich hoffe es fällt uns allen in der Gruppe leichter. Wenn wir sehen, dass es andere schaffen, dann ist es nicht mehr so schwer, selbst diesen Weg zu gehen." Alex und Valerie rückten ganz nahe zusammen. Eine seltsame Stille machte sich breit, bis Kengel weiterredete: "Also dann, lasst uns diesem Leben, um das wir nie gebeten haben, endlich ein Ende setzen! Wer will, reicht sich mit mir die Hände. Das würde mir sehr helfen. Wenn ihr bereit seid, lasst uns von Zehn nach Null zählen und dann springen. Danke." Er drehte sich um und machte einen Schritt auf den Abgrund zu, streckte einladend seine Hände zur Seite und wartete. Eine der Kifferinnen stellte sich zögerlich neben ihn und reichte ihm die Hand. Ein paar andere folgten. Es formierten sich mehrere Gruppen, die sich die Hände reichten. Valerie und Alex standen zu zweit etwas abseits von den anderen. Manche zogen es vor, allein zu bleiben.