Von Milos Wächter
ausbrechen - Kapitel 1-4
Valerie spielt mit Alex, verachtet und benutzt ihn. Eines Tages entdeckt Alex ein Internetforum der besonderen Art. Jugendliche treffen sich dort, um einen gemeinsamen Massenselbstmord zu planen. Alex und Valerie finden das "echt heftig" - und machen mit. Mitleid mit den beiden, soviel vorweg, ist aber nicht vonnöten.
8. April 2017, 21:58
1.
Valerie schlüpfte in das dunkelblaue, elegante Abendkleid und stellte sich vor den Badezimmerspiegel, um ihrem Make-up den letzten Schliff zu verpassen. Ihre Mutter hatte ihr die langen Haare zu einem Zopf gebunden. Vorspielabend in der Musikschule. Sie war perfekt vorbereitet. Die Melodie von Chopins Nocturne erklang in ihren Gedanken. Sie überprüfte ihre Fingernägel. Entfernte einen Fusel von ihrem Kleid. Fuhr sich nervös an den rechten Ohrring. Ihre Mutter tauchte hinter ihr auf, nahm das dunkelblaue, samtene Kropfband von der Etagere und legte es Valerie um den Hals. Es sperrte ihr das Blut ab, als sie sich bückte, um ihre Strümpfe hochzuziehen. "Bist du fertig?" Valerie nickte und folgte Frau C nach unten in die Garage.
2.
Völlig übermüdet lümmelten Herr C und Frau M an einem Stehcafé in einer Raststätte. Frau M wäre am liebsten auf der verklebten Tischplatte eingeschlafen, aber beiden war klar, dass sie nicht ruhen konnten, ehe sie ihr Ziel erreicht hatten. Soeben hatten sie die Region Bretagne erreicht – die Klippe, an der das Selbstmordtreffen stattfinden sollte, konnte also nicht mehr weit sein. Herr C stöberte im Zeitschriftenregal nach einer detaillierten Autokarte und ließ sich von einem Angestellten die Pointe du Raz zeigen. Ein freudiges Gefühl stieg in ihm hoch, als er sah, dass sie wirklich nicht mehr weit weg waren, dass sie in weniger als zwei Stunden dort sein konnten. Ein herzliches, warmes Lächeln strahlte ihm von Frau Ms Gesicht entgegen, als er ihr die Route zeigte. "Wir schaffen das", sagte sie mit einer plötzlichen Zuversicht, die Herrn C wohltuend irritierte. Es war so unwahrscheinlich, ihre Kinder an der Klippe anzutreffen und von ihrem Vorhaben abzubringen, der Massensuizid konnte sich auch erst in Wochen oder Monaten ereignen – und doch sah ihn Frau M an, als wären sie knapp davor, Valerie und Alex in ihre Arme zu schließen. Er konnte nicht anders als sie dafür zu umarmen und fest zu drücken. Sie stieß ein überraschtes Kreischen aus, als er sie dabei übermütig in die Luft hob, und drückte ihn dann ebenfalls. Als sie aufhörten, hatte auch er ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Der naive Optimismus steckte an. Vielleicht lag es an der Müdigkeit. Oder an dem Hauch verrückter Verzweiflung, der ihren Rettungsversuch umwehte. Vielleicht weckte Frau M aber auch einfach nur eine Seite in Herrn C, die in den letzten Ehejahren verdörrt war. "Wir schaffen das", wiederholte er müde und schaute eine Weile in ihre Augen. Er hatte den Eindruck, dass sie zurücklächelten, vielleicht wegen der kleinen Krähenfüßchen; wie Sonnenstrahlen; Sonnenaugen...
Der Café Crème fing an zu wirken. Herr M zeigte seiner Beifahrerin die Route, die ihm der Angestellte empfohlen hatte, dann stiegen sie wieder ins Auto.
3.
Etwa zur Mittagszeit, am Tag vorm großen Springen, stiegen Valerie und Alex einen Kilometer vor der felsigen Landzunge Pointe du Raz aus dem Bus. Das letzte Stück mussten sie zu Fuß gehen, denn das Klippengebiet war für alle Verkehrsmittel gesperrt. Sie schlenderten gemütlich durch das wilde Gras. Alex stachen die zahlreichen Büsche mit den gelben Blüten und die Felder von blassvioletten Blumen ins Augen; er hatte keine Ahnung, wie sie hießen, und warum sollte er sich auch darum scheren; er genoss sie einfach nur. Valerie erfreute sich an den warmen Sonnenstrahlen und der milden Meeresbrise im Gesicht, atmete tief die jodreiche Seetangluft ein und als wollte sie die Umgebung mit allen Sinnen aufnehmen, berührte mit fast kindlicher Neugier jeden größeren Gesteinsbrocken – von der ständigen Bearbeitung durch den Ozeanwind waren die Felsen geglättet und fühlten sich speckig an.
"Idyllisch, oder?", fragte Alex grinsend, und er klang dabei wie ein junger Ehemann, der seiner Frau die Bestätigung entlocken wollte, den perfekten Flitterwochenurlaub gebucht zu haben. Gerade das fügte dem Moment einen grotesken Widerspruch hinzu. Valerie schaute auf die in der Ferne auftauchenden grauen, schroffen Klippen und nickte. Eine größere Welle zerbarst mit leisem Donnern an einer der "Pointe" vorgelagerten kleinen Felsinsel. Meterweit spritzte die Gischt an dem Betonleuchtturm hoch, der aller Unwirtlichkeit zum Trotz auf der Insel stand. Von dort aus hätte man einen großartigen Blick auf das morgige Suizidspektakel, dachte Alex und streichelte Valerie durch die langen Haare. Ein nachdenkliches Lächeln ließ seine Mundwinkel zucken, als ihm auffiel, dass Valerie ihre Haare seit ihrer Abreise nur noch offen trug. Im Meereswind wehten sie jetzt unkontrolliert in alle Richtungen, streiften immer wieder Alex' Gesicht und schickten verlockende Düfte in seine Nase, die gleich darauf von salzigem Ozeangeruch übertönt wurden.
Die Pointe du Raz war ein beliebtes Touristenziel. Schon die große Parkplatzanlage bei der Bushaltestellte hatte Ausmaße, die darauf hindeuteten, dass unzählige Besucher hier jährlich ins Meer hinausblickten. Es waren nicht sonderlich viele Gäste bei der Klippe, aber doch viel zu viele, um sich ungestört zu fühlen. Alex verwarf also schnell den Gedanken an einen Quickie wieder, obwohl ihm die Vorstellung, Valerie auf einem Felsvorsprung über tosender Gischt und Granitzacken zu nageln, sehr gut gefiel – wie aus einem kitschigen Softporno. Sie bewegten sich also wie gewöhnliche Touristen in Richtung Klippenspitze.
Eine große Warntafel, dort wo der Spazierweg ins unwegsame Gelände mündete, wies auf die Gefahr eines Absturzes hin. Ab einer gewissen Stelle wurde das Gefels so unwegsam, dass sich hier nur noch sportliche Menschen herumtrieben. Valerie und Alex mussten ihr Gepäck unter einem massiven Granitvorsprung zurücklassen, um bis an den äußersten Punkt der felsigen Landspitze zu gelangen. Ein kleiner Bereich von wenigen Quadratmetern stand dort den Touristen zur Verfügung, um Fotos von dem Leuchtturm zu schießen, der immer noch den wuchtigen Schlägen der Atlantikwellen ausgesetzt war. Manchmal drehten sie sich alle gleichzeitig weg, um ihre Kameras vor der hochspritzenden Gischt zu schützen. Valerie und Alex stellten sich bis ganz an den Rand und schauten nach unten. Ein Sprung würde den sicheren Tod bedeuten: Sollten etliche Meter freier Fall und eine Landung auf den meist unter Wasser verborgenen riesigen Steindornen nicht reichen, um einen willigen Selbstmörder umzubringen, dann würden die großen Wellen den Körper so oft gegen die zackige Felsklippe schmettern, bis kaum mehr etwas von ihm übrig war. Wahrscheinlich zog einen die starke Strömung ohnehin schnell unter die Wasseroberfläche. Alles in allem ein guter Ort für einen Freitod, resümierte Alex.
Er beobachtete die anderen jungen Menschen, die sich bis an diesen Punkt vorgewagt hatten. Ob noch andere aus dem Selbstmordforum unter ihnen waren? Die meisten wirkten zu "normal", trugen zu viel Harmonie, zu viel Optimismus in ihren Augen. Nur ein schmächtiger, mit Pickeln übersäter Jugendlicher schien Alex labil genug für einen Suizidversuch. Er starrte ihn eine Weile an, der Bursche mied seinen Blick aber und verkroch sich wieder. Valerie war auch auf ihn aufmerksam geworden. "Bis morgen!", rief sie ihm nach, doch er reagierte nicht.
4.
Liebes Tagebuch,
Wir haben heute nicht miteinander gesprochen, nichts gedeutet, uns nicht einmal angesehen. Und dennoch, als wäre es ein Naturgesetz, haben wir uns in der großen Pause in unserem abgelegenen Gang getroffen. Wir gingen langsam aufeinander zu, ohne etwas zu sagen, ohne eine Miene zu verziehen.
Ich legte meine Hände auf sein Gesicht und seinen Hals, den er noch immer mit einem Tuch bedeckt, damit man die Würgemale nicht sieht, die ich ihm zugefügt habe. Er legte seine Hände auf meine Hüften. Unsere Mienen blieben ernst. Dann schob er seine Hände nach oben, unter meinen Pullover, unter mein Leibchen. Er fuhr auf meiner nackten Haut nach oben und machte auf Bauchnabelhöhe Halt. Ich fand das interessant, aber noch nicht wirklich anregend. Ihm hingegen schien das richtig gut zu gefallen. Er blieb zwar ernst, aber seine Atmung wurde schneller, und ich spürte, wie das Pulsieren seiner Halsschlagader plötzlich intensiver wurde.
Er zitterte ein wenig. Er hielt mich immer fester, seine Finger gruben sich bald regelrecht in meinen Bauch, ich sah wie sein erregtes Glied gegen die Hose drückte. Er kam mit dem Gesicht ganz nah an meines heran, rieb seine Wange an meiner und roch dann an meinen Haaren. Ich fand den Geruch seiner Haare ganz angenehm, aber immer noch fehlte etwas. Im Gegensatz zu ihm war ich kaum erregt. Er lutschte ein paar Mal an meinem Ohrläppchen und steckte mir seine Zunge in mein Ohr. Ich fuhr jedes Mal zurück, es kitzelte fürchterlich. Dann flüsterte er: "Ich will deine Bauchdecke aufschlitzen und reinficken", und dabei drückte er mich ganz fest an sich und rieb seinen Körper an meinem, sodass ich deutlich sein hartes Glied an meinem Bauch spüren konnte. Ich tat zuerst gar nichts, sondern wartete ab und beobachtete, wie er immer mehr vor Erregung zitterte, wie er immer heftiger atmete. Dann schob ich ihn brüsk von mir weg und sagte: "Du interessierst mich nicht mehr.", drehte mich um und ging in Richtung Klasse zurück. Auf dem Weg dorthin bog ich aber ab und schloss mich auf der Mädchentoilette ein. Ich zitterte vor Erregung, vor Genugtuung. Der enttäuschte Blick, als ich sein Lustspiel so grob unterbrach, war herrlich. Die Angst, er würde mich nie wieder berühren dürfen, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich zog meine Hose aus und fuhr mir mit den Fingern in die Scheide. Sie war ganz feucht. Kurz verspürte ich ein schönes Gefühl, es verflog aber schnell wieder und zurück blieb ein halbnacktes Mädchen, das sich ganz fürchterlich vor sich selbst ekelte. Ich wusch mir endlos lang die Hände, bis ich mich in die Klasse traute. Zum ersten Mal war ich zu spät zum Unterricht erschienen.
Nach Unterrichtsende mied ich den Keller, wo er bestimmt auf mich gewartet hat, und ging sofort nach Hause. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich sehne mich immer mehr nach Befriedigung, aber ich verstehe nicht, warum ich sie nicht einfach durch Masturbation bekomme, sondern nur, wenn ich diesen Jammerlappen quäle. Niemand, niemand darf je erfahren, was hier zwischen Alex und mir läuft. Mutter würde mich umbringen.