Von Milos Wächter
ausbrechen, Kapitel 13-19
13.
Es war Frau M, die sich als erste wieder aufraffte und zur Klippe fahren wollte. "Ich will es sehen", sagte sie mit einer Entschlossenheit, die ihren schlaffen Gliedern und verheulten Augen auf seltsame Weise widersprach. Herr C nahm ihren Wunsch hin und sie gingen ruhig zum Auto zurück, diesmal fuhr Frau M.
8. April 2017, 21:58
Beim Parkplatz der Pointe du Raz angekommen, mussten sie feststellen, dass dieser gebührenpflichtig und der Schranken noch geschlossen war. Sie stellten das Auto trotz Parkverbot einfach am Straßenrand ab und mussten dann ein gutes Stück zu Fuß gehen, bis sie endlich bei der Klippe ankamen. Das Gelände war menschenleer. Sie gingen an einer Warntafel vorbei und traten den schwierigen Weg zur Spitze an. Bald musste Frau M ihre geländeuntauglichen Schuhe ausziehen und barfuß weiterklettern. Wenn größere Granitbrocken im Weg waren, half ihr Herr C bei deren Überwindung. Je näher sie der Spitze kamen, umso beklemmender wurde das Gefühl in ihrer Brust, umso größer die Angst beim Gedanken daran, jeden Moment die halbzerfetzten Leiber ihrer Kinder im Meer treiben zu sehen...
14.
Es muss ein seltsames Bild gewesen sein, wie etwa 30 junge Menschen Hand in Hand schweigend auf den in Morgenlicht getauchten Ozean hinausblickten, hinter ihnen die aufgehende Sonne und die bretonische Hügellandschaft, vor ihnen die tödlichen Fluten und der einsame Leuchtturm. "Bereit?", fragte Kengel nach einer Weile, ohne sich umzublicken. Nach einigen Sekunden Stille löste sich Valerie aus ihrer Faszination und rief: "Moment!". Alle, auch Alex, schauten sie fragend an. "Wir sollten unsere Ausweise hier lassen, damit die Leute wissen, wer sich hier überhaupt umgebracht hat!" Sie zog wie zur Illustration ihre Geldtasche aus der Jacke und legte sie auf den felsigen Untergrund. "Und natürlich Abschiedsbriefe, falls ihr die nicht schon zu Hause gelassen habt. Aber passt auf, dass nichts davonfliegen kann!" Blitzartig lösten sich die Hände und binnen Sekunden fielen Portemonnaies, Handtaschen und kleine Rucksäcke auf den Boden. "Wie ihr wollt", rief Kengel gleichgültig. Als dann alle fertig waren, startete er einen mechanischen Countdown: "10... 9..." Alex und Valerie umarmten sich innig. Die Personen in den Gruppen drückten ihre Hände fester und spannten ihre Beinmuskeln an, bereit für den Absprung. "8... 7..." Alex und Valerie begannen ihre Körper aneinander zu reiben, gierig fuhr Valerie unter Alex' T-Shirt und presste ihre Fingernägel in seine Rückenmuskulatur. "6... 5...", der Sprechchor wurde immer lauter und aggressiver während Valerie Alex in die Hose fuhr, seinen steifen Penis packte und wild bearbeitete. Alex hatte inzwischen eine Hand auf Valeries Brust gelegt und ließ die andere in ihre Unterhose gleiten. "4... 3..." Sie küssten sich wild und begannen sich zu drehen; Gefels, Selbstmörder, Ozean, Selbstmörder, Gefels, Selbstmörder, Ozean, Selbstmörder und wieder Gefels verschwommen vor ihren Augen. Die anderen waren so sehr auf den Countdown konzentriert, dass sie das seltsame Treiben der beiden kaum wahrnahmen. "2... 1..." Jetzt verkrallten sie sich förmlich im Geschlecht des anderen, als wollten sie für immer zu einer Einheit verschmelzen: Alex wühlte in Valeries feuchter, warmer Scheide, Valerie würgte Alex' Penis und fuhr ihm mit dem Zeigefinger der anderen Hand in den After. Beide atmeten heftig vor Erregung und drehten sich immer schneller, torkelten neben dem Abgrund umher, schließlich erklang das von der Gruppe so sehnlich herbeigewünschte "Null!".
Kengel ging ein wenig in die Hocke, um sich dann mit den vier anderen, die in seiner Gruppe standen, mutig und archaisch brüllend in den Abgrund zu stürzen. Die anderen folgten ihnen nach, binnen weniger Sekunden fielen sie grüppchenweise oder allein, mit einem leidenschaftlichen Sprung oder lethargisch nach vorne kippend, in die Fluten. Alex und Valerie drehten sich noch schneller, und während sie die Selbstmörder in alle Richtungen springen und verschwinden sahen explodierten ihre Lustzentren, flossen Speichel, Sperma und Scheidensekret, und sie vergaßen, wo der eigene Körper aufhörte und der des anderen begann, waren nur ein einziges Bündel ekstatischen Genusses. Mit dumpfem Klatschen landeten die anderen im Wasser und auf den Felsen, abrupt verstummte ihre Gebrüll, nur einer schien Pech gehabt zu haben: von unten drangen verzweifelte Schmerzensschreie empor, die aber kurz darauf unter grusligem Gurgeln von den Fluten erstickt wurden. Ein Jugendlicher war jetzt noch übrig. Er hatte das stöhnende Paar entdeckt und stürzte auf sie zu, packte Alex am Rücken und wollte ihn zum Abgrund zerren. Er dachte, die beiden hätte – so wie ihn – der Mut verlassen und wollte ihnen beim Sterben helfen. Alex und Valerie bemerkten ihn nicht einmal sondern drehten sich benommen weiter, wie von der Lust betäubt. Der Junge verstand erst jetzt, was die beiden trieben und wich entsetzt zurück, stolperte und fiel rücklings die Klippe hinunter.
Valerie und Alex bemerkten, dass sie nun alleine waren, lösten sich voneinander und gingen auf den Abgrund zu. Unten trieben die leblosen Körper, wurden immer wieder gegen die Felsen geschmettert und verschwanden in der Gischt. Dort und da wurde das Wasser in dunkles Rot getaucht, doch die starke Strömung verwischte schnell die Spuren des frischen Massenselbstmordes. Nur die roten Spritzer auf den freiliegenden Felsen blieben. "Ist das geil...", flüsterte Alex. "Diese Loser...", fügte Valerie hinzu. Fasziniert, ja geradezu erregt starrten sie mit halboffenen Mündern auf die toten Leiber. Bald löste sich Alex aus seiner Starre, trat hinter Valerie und riss ihr die Hose ganz hinunter, um im Stehen von hinten in sie einzudringen. Valerie stöhnte und verkrallte ihre Finger gierig in Alex Pobacken, um ihn noch tiefer in sich hineinzudrücken. Sie beugten sich immer mehr nach vor, um einen guten Blick auf die Leichen zu haben. Als sie schließlich fast das Gleichgewicht verloren, sanken sie auf den Boden nieder, um in Hündchenstellung weiterzumachen. Gebannt fixierten sie die Körper, die immer mehr in den Fluten verschwanden. Jedes Mal, wenn eine Welle gegen die Klippe donnerte, hämmerte Alex kraftvoll in Valerie hinein; jedes Mal, wenn die Leichenteile gegen das Gefels geschmettert wurden, näherten sie sich einem weiteren Höhepunkt.
In ihrer Ekstase hatten sie bald den Eindruck, mit ihren Bewegungen die mächtigen Wellen zu kontrollieren, als wären sie Teil ihrer Körper, als wären sie es, die die Toten mit jedem Stoß in Valeries Geschlecht immer und immer wieder gegen die Klippe warfen. Sie trieben es schließlich so heftig, dass sie sich Rücken, Knie und Kopf am Felsuntergrund blutig schlugen und versanken in einer orgastischen Trance, von der sie beide nicht sagen konnten, wie lange sie andauerte. Irgendwann lagen sie erschöpft, reglos ineinander verschlungen auf der kleinen Plattform, klebrig von ihren eigenen Körperflüssigkeiten, mit dem herrlichen Gefühl, wunschlos glücklich zu sein.
15.
Kurz bevor sie die Plattform am Ende der Landzunge erreichten, erspähte Frau M ein paar Kleidungsstücke und schließlich einen reglosen Körper im Wasser. Der Anblick schockierte sie so sehr, dass sie kurz die Kontrolle verlor und ohne jeglichen Laut kraftlos zusammensank. Herr C packte sie gerade noch rechtzeitig, bevor sie mit dem Kopf auf den Felsen aufgeschlagen wäre. Sie fing sich recht schnell wieder und wollte weitergehen, Herr C bestand aber darauf, dass sie noch ein wenig sitzen blieb und sich erholte. Sie hatte ihm einen ordentlichen Schrecken eingejagt, und blitzartig war ihm bewusst geworden, was für einen Schlag es ihm versetzt hätte, wenn sie jetzt auch noch in die Fluten gestürzt wäre. Er wäre wahrscheinlich noch in der gleichen Sekunde nachgestürzt. Und vielleicht war es auch nur die Anwesenheit dieser naiven, gutherzigen Frau, die es ihm ermöglichte, noch nicht alles hinzuschmeißen und zumindest abzuwarten, ob er seinem Leben nicht doch noch etwas abgewinnen konnte – so sinnlos und leer es ihm jetzt auch vorkam.
16.
Alex löste sich als erster aus dem harmonischen Glückzustand, in dem die beiden auf der Klippe schwebten. Er glaubte, eine Stimme gehört zu haben. Vorsichtig löste er sich aus Valeries Umarmung und kletterte ein bisschen die Felsen hinauf, um einen Überblick über den schwierigen Kletterweg zu bekommen. Am anderen Ende des felsigen Teils der Landzunge erkannte er zwei Personen, die sich auf sie zu bewegten. "Was ist denn?", fragte Valerie, die sich über das abrupte Ende des unbeschwerten, zeitlosen Moments ein wenig ärgerte. Alex sprang zu ihr hinunter. "Da kommen Leute. Komm, wir müssen verschwinden!" Sie zogen sich rasch wieder an und sammelten hektisch die herumliegenden Wertgegenstände ein. Als sie fertig waren, überlegten sie, wie sie unbemerkt davonkommen konnten. Entweder, sie versuchten zum Meer hinunterzuklettern, sodass man sie von der Plattform aus nicht sehen konnte. Oder sie suchten sich einen Rückweg über die gefährliche, ungesicherte Seite der Landzunge, welche für die Touristen auf dem offiziellen Weg meist versteckt blieb. Da jederzeit noch mehr Besucher kommen konnten, entschieden sie sich für Letzteres. Sie überlegten fieberhaft, wie sie am sichersten zurückkehren konnten, ohne unfreiwillig den Selbstmördern in die Tiefe zu folgen. Gerade als sie losklettern wollten, hörten sie ganz in der Nähe einen Schrei. Vorsichtig spähte Alex zum Wanderweg – und erkannte zu seinem großen Schrecken seine Mutter. Ahnungsvoll schlich Valerie ebenfalls zu der Stelle und sah ungläubig, dass der Begleiter von Alex' Mutter ihr Vater war. "Scheiße, was wollen die hier?" – "Egal. So oder so, wir müssen weg. Ich habe keine Lust, denen irgendetwas zu erklären." Also traten sie so leise wie möglich den Rückweg über das unwegsame Gefels an. Immer wieder kamen sie an Stellen, wo sie nicht recht weiterwussten und gezwungen waren, ein Stück zurück zu klettern um einen anderen Weg einzuschlagen. Unter ihnen donnerten die Wellen bedrohlich gegen den Granit, und mehr als einmal rutschte einer der beiden aus und wäre um ein Haar nach unten gefallen.
Sie zitterten, als ihre Adrenalin-getränkten Körper endlich wieder sicheren Boden unter den Füßen hatten. Von der Warntafel aus waren ihre Eltern nicht zu sehen – wahrscheinlich waren sie gerade auf der Plattform. Alex nahm Valerie bei der Hand und sie suchten rasch das Weite. Erst als sie bei ihrem Gebüsch auf der Pointe du Van angekommen waren, wagten sie es, eine Pause einzulegen. Sie kauerten sich in der Nähe ihres Gepäcks zusammen und atmeten tief durch. Irgendwann grinsten sie beide. "Das war Wahnsinn...", flüsterte Alex. "Wahnsinnig schön...", ergänzte Valerie zustimmend. Und sie fielen sich in die Arme.
17.
Frau M legte ihren Arm um Herrn Cs Hüfte, er legte ihr seinen Arm um die Schulter, und so standen sie aneinandergedrückt auf der kleinen Plattform am Ende der Pointe du Raz und blickten entsetzt in die wuchtigen Wassermassen, die immer wieder Kleidungsstücke und tote Körper zum Vorschein brachten. Lange standen sie einfach nur da und starrten in die schäumenden Wellen. Frau M wurde immer wieder von Heulkrämpfen geschüttelt, während die Gesichtsmuskeln von Herrn C weiterhin wie gelähmt waren. Irgendwann löste sie sich aus der Umarmung und inspizierte die herumliegenden Gegenstände. Zwischen offenen, ausgeleerten Rucksäcken lagen auch ein paar Geldtaschen. Bald streckte sie Herrn C heulend den Schülerausweis seiner Tochter entgegen. Er nahm ihn mit zitternden Händen an sich. Valerie sah ihm von dem winzigen Foto mit ernstem Blick entgegen. Sie war sehr elegant gekleidet. Das blaue Kropfband irritierte ihn. Es erinnerte ihn zu stark daran, wie sehr seine Frau Valeries Leben in allen Details kontrolliert und beherrscht hatte. Erstmals regte sich wieder etwas in ihm. Er ließ die Hand mit dem Ausweis sinken. Seine Augen wurden feucht. Frau M umarmte ihn, woraufhin er in Tränen ausbrach und recht lange sein Gesicht in ihren Mantel bohrte und erstmals in seinem Leben richtig heulte.
18.
Alex und Valerie fühlten sich jetzt sicher – ihre Eltern mussten glauben, dass sie unter den Selbstmördern waren, und es war unwahrscheinlich, dass sie sich, wo sie schon mal in der Gegend waren, die Pointe du Van ansehen würden. Sie schliefen gerade miteinander, als Herr C bei der Pointe du Raz den Wagen startete und mit Frau M davonfuhr.
Später breiteten sie die Wertsachen aus, die sie dank Valeries spontanem Einfall von den Selbstmördern ergattert hatten. Die beiden staunten nicht schlecht über ihre Ausbeute. Manche der Klippenspringer hatten anscheinend so viel Bargeld wie nur irgendwie möglich mitgenommen, wahrscheinlich, um auf alle Fälle rechtzeitig beim Treffen zu sein – manche waren schließlich aus Norwegen, Rumänien und Griechenland angereist. Eine Rechnung etwa belegte, dass einer stolze 340 Euro für eine Taxifahrt bezahlt hatte, um nicht zu spät zu kommen. Natürlich hatten nicht alle über ein großes Budget verfügt – aber da fast alle ihre Wertsachen auf der Klippe gelassen hatten, kamen doch über 7000 Euro zusammen. "7000 Euro! Sie-ben-tau-send-eu-ro! Du bist genial!", wiederholte Alex immer wieder euphorisch, umarmte und küsste Valerie überschwänglich, die das alles grinsend über sich ergehen ließ. "Du bist ein schlimmes Mädel, weißt du das? Ein richtig versautes, böses Mädel! Hätte ich dir nicht zugetraut, diese Aktion!" "Na wäre doch zu schade gewesen, wenn diese Idioten mit ihrem ganzen Geld gesprungen wären..."
19.
Valerie saß mit ihrer neuen Sonnenbrille auf der Terrasse eines kleinen Cafés und beobachtete das Treiben am kleinen Yachthafen von Noirmoutier en-l'Île, der winzigen Hauptstadt der gleichnamigen Atlantikinsel. Sie fühlte sich herrlich entspannt und erfreute sich einfach nur am Anblick der weißen Ibisvögel und Möwen, die auf den alten, vermoderten Schiffswracks hocken. Eine angenehme, warme Brise umspielte ihre Wangen, ließ die Segel der neuen Yachten flattern und die Metallseile gegen die Masten klimpern. Alles war gut. Irgendwann gesellte sich Alex zu ihr. Sie küssten sich, dann schob er ihr die Regionalzeitung zu. Ein Artikel berichtete von neuen Erkenntnissen zum Massensuizid auf der Pointe du Raz. Sie schmunzelten.
Zwei Monate später sprangen 63 junge Menschen, die sich über ein Internetforum verabredet hatten, von einer Klippe im Baskenland in den Atlantik. Zwei sprangen nicht. Sie erbeuteten knapp 32.000 Euro.
Valerie trug nie wieder ein Kropfband.