Von Erstarrung keine Spur

Bilanz der Bayreuther Festspiele 2010

Am 28. August 2010 gehen in Bayreuth die 99. Wagner-Festspiele zu Ende, die ersten nach dem Tod von Wolfgang Wagner. Obwohl der letzte Enkel von Richard Wagner bereits vor zwei Jahren die Festspielleitung an seine Töchter Katharina und Eva abgegeben hatte, regierte er im Hintergrund weiter den Grünen Hügel. Bis 2015 stehen die Spielpläne mittlerweile fest.

Mittagsjournal, 28.08.2010

Picknick mit Oper

Tankred Dorst im Schatten eines Pavillons. Seine Inszenierung der "Walküre" auf einer riesigen 90 Quadratmeter-Hightech-Großleinwand vor ihm. Es sei schon vernünftig, so der 85-Jährige, dass die Oper vom Grünen Hügel steigt, zu den Bayreuthern auf die Festspielwiese. Gut 40.000 Besucher kamen und gingen auf diesem für 20.000 Menschen zugelassenen Platz. Ob sein Konzept des Rings hier verständlich wird, bezweifelt Dorst jedoch.

Bayreuth, das heißt seit drei Jahren auch, Oper für alle. Wo der Oberbürgermeister im T-Shirt an der Strandbar steht, Festspielleiterin Katharina Wagner unterm Sonnenschirm auf der Bierbank sitzt und von Berlin schwärmt, während das Publikum oben am Festspielhaus gedämpft den nagelneuen "Lohengrin" von Regisseur Hans Neuenfels zerreißt, den Kreislaufkollaps von Festspielleiterin Eva Wagner-Pasquier hinterfragt oder den Ersatzregisseur für den kürzlich verstorbenen Christoph Schlingensief sucht. Dazwischen die Kartensuchenden, ein Relikt aus alten Zeiten.

Das "echte" Erbe

Die Dimensionen haben sich verschoben. Unten beim Public Viewing sitzen Franzosen, Holländer, Berliner und Hamburger, die jetzt nicht mehr auf eine Karte warten, sondern lieber das kostenlose Open Air samt Cocktails, Bratwurst und Bier besuchen. In diesem Jahr das erste Mal auch für Kinder. "Tannhäuser" als Internatsschüler, Venus als Punkerqueen und der Sängerstreit als Castingshow.

Trotz sommerheißen Temperaturen ein voller Erfolg. Ein Festspielplatz voller kleiner Venusmädchen und Walküren, die mit roten Wangen, geschminkt und frisiert, die Venusdarstellerin Alexandra Petersamer ins Kreuzverhör nahmen. Für Festspielleiterin Katharina Wagner das tatsächliche Erbe Richard Wagners.

Bissig-böser "Lohengrin"

Kommendes Jahr soll dort auf dem Festspielplatz Jonas Kaufmann auftreten, der neue Lohengrin von Bayreuth. Eine Ausnahmeerscheinung, sind sich die Kritiker sicher, auch in der bissig-bösen Inszenierung von Hans Neuenfels. Ein Schwanenritter inmitten von Laborratten. Keine Skandalinszenierung, wie sie vorab im deutschen Feuilleton herbeigeschrieben wurde, sondern eine kluge Suche nach der Identität des Individuums.

Eine erfrischende Interpretation gegenüber dem statisch hingeklotzten Ring von Tankred Dorst, den auch die Werkstatt Bayreuth nicht mehr beheben kann.

Auch mit den "Meistersingern" in der Regie von Festspielleiterin Katharina Wagner kann sich das Publikum noch immer nicht anfreunden, nichtsdestotrotz steht 2015 ihre zweite Regiearbeit fest, "Tristan und Isolde" mit Christian Thielemann.

Dafür haben Katharina Wagner und ihre Halbschwester Eva gesorgt. Das 2009 gestartete Projekt "Wagner für Kinder" wurde mit einer Kurzfassung des "Tannhäuser" erfolgreich fortgesetzt. 2011 steht eine auf rund zwei Stunden verdichtete Fassung des "Ring des Nibelungen" auf dem Programm. Vollends etabliert hat sich die Siemens Festspielnacht mit wiederum rund 40.000 Besuchern bei der kostenlosen Liveübertragung der Oper "Die Walküre" unter freiem Himmel. Und auch die Aufzeichnung des Kinderstücks "Tannhäuser" mit dem anschließenden Erlebnisparcours stieß auf großes Interesse bei Jung und Alt.

Aufarbeitung der Geschichte der Festspiele

Frühestens 2013 werden die Festspiele endgültig die Handschrift der beiden Schwestern tragen. In diesem Jahr konzentrierte sich Katharina Wagner deshalb noch auf die Kinderoper. Kritische Stimmen werden leiser, vor allem nachdem die mächtige Gesellschaft der Freunde Bayreuths gleichwertige Konkurrenz bekommen hat von TAFF, dem Team aktiver Festspielfreunde, ein neuer Förderkreis ohne Vorstandsallüren, der Bayreuths notorisch klamme Kassen zu füllen hilft. Wolfgang Wagner hätt's gefreut, ist sich Katharina Wagner sicher.

Eher am Rande bemerkt wurde als weitere Neuerung die Berufung des Berliner Historikers Peter Siebenmorgen. Er soll den Beginn einer unabhängigen und schonungslosen Aufarbeitung der Geschichte der Festspiele ohne ideologische Scheuklappen garantieren.

Abschluss ist Schlingensief gewidmet

Die letzte Aufführung der diesjährigen Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele ist dem kürzlich verstorbenen Regisseur Christoph Schlingensief gewidmet. "Schlingensief hat vieles in Bewegung gesetzt", sagte Festspielsprecher Peter Emmerich. Daran wollten sich alle Mitarbeiter und Mitwirkenden der Festspiele am Samstag erinnern, wenn mit der Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" die 99. Wagner-Festspiele enden.

Schlingensief hatte 2004 in Bayreuth mit seiner "Parsifal"-Inszenierung für Wirbel gesorgt. Dass der mittlerweile verstorbene Festspiel-Chef und Wagner-Enkel Wolfgang Wagner den als Theater-Provokateur bekannten Regisseur auf den "Grünen Hügel" holte, galt als Sensation.

"Christoph Schlingensiefs 'Parsifal' war eine Art Katalysator", beschrieb Emmerich die Bedeutung Schlingensiefs für den Bayreuther Festspielbetrieb. Das Festspielorchester habe sich spontan zu einer Spende für Schlingensiefs Opernhaus-Projekt in Burkina Faso entschlossen, berichtete Emmerich. Weitere Gesten seien aber nicht geplant: "Die beste Art, einen Theatermann zu ehren, ist gutes Theater zu spielen, und das wollen wir machen."