Korrupte Offiziere, geschundene Rekruten
Russlands Probleme mit den Streitkräften
Sie war das Schreckgespenst aller militärischen Planer in Westeuropa und den USA: Die Rote Armee der Sowjetunion. Heute fürchten sich vor ihrem Nachfolger, den russischen Streitkräften, allerdings andere: die russischen Bürger, vor allem junge Männer und Eltern von Söhnen.
8. April 2017, 21:58
Prügel, Zwangsarbeit und sogar die Ermordung von Soldaten durch ihre Vorgesetzten sind in Russland nichts Außergewöhnliches. Und wegen des starken Rückgangs der Bevölkerung gehen der Armee schon bald die Soldaten aus.
"Wir müssten uns an der Geschichte orientieren."
Anatolij Zyganok, Direktor der Akademie für Militärwissenschaften und ehemaliger Generalstabsoffizier, über das Vorbild Peter der Große.
Verluste trotz Friedenszeiten
Bei Paraden zeigt die russische Armee, wie sie sich selber gerne sieht: Zackig, modern - energische jungen Soldaten paradieren stolz mit Marschmusik an Prominenten und ausländischen Gästen vorbei. Doch abseits der Paraden ist das Bild ein anderes.
Erst seit wenigen Jahren hat die Armeeführung genügend Geld, um ihre Soldaten ausreichend mit Nahungsmitteln zu versorgen, schätzen Experten. Die modernen Waffen aus russischer Produktion werden zum Großteil ans Ausland verkauft. Und etwa 2.000 Soldaten sind im vergangenen Jahr gestorben - die höchste Todeszahl einer Armee in Friedenszeiten weltweit, weiß Valentina Melnikowa vom Komitee der Soldatenmütter. Die Gründe: Selbstmorde, Unfälle oder Verweigerung der medizinischen Behandlung.
Die Soldatenmütter versuchen, eine menschenwürdige Behandlung der Soldaten durchzusetzen. "Schlechter als jetzt kann es nicht werden", erzählt Melnikowa. "Unsere Organisation gibt es seit 25 Jahren, und jeder Soldat der eingezogen wird, wird erniedrigt, geschlagen oder auf andere Weise das Opfer unmenschlicher Behandlung - auch wenn das meiste davon nie ans Licht kommt."
Staatliche Sklaverei?
Normale Soldaten hätten weniger Rechte als Strafgefangene zu Sowjetzeiten, klagt Melnikowa. Ab dem Zeitpunkt ihrer Einberufung seien sie quasi Leibeigene ihrer Vorgesetzten - sich zu wehren sei oft ein Todesurteil.
Leibeigenschaft, Sklaverei - keine leeren Worte, weiß Anton Kusnezow: Er wurde 2003 als 17-Jähriger zur Armee eingezogen. Die Wehrpflicht dauerte damals noch zwei Jahre, trotzdem kam der junge Mann erst im Jahr 2009 aus der Armee nach Hause: Er war desertiert, weil ihn seine Vorgesetzten im südrussischen Dagestan als Zwangsarbeiter verkauft hatten, erzählt seine Großmutter Antonina Kusnezowa. In einem Brief hat ihr Enkel seine Situation beschrieben:
Hallo Oma, am 13. März haben sie mich und fünf andere Soldaten heimlich zu einer Ziegelei am Stadtrand gebracht. Die Leute hier sind Bestien, sie schlagen uns, als ob wir Esel wären.
Ihr Enkel müsse sich jetzt vor der Polizei verstecken, er werde gesucht, klagt Kusnezowa. Das Komitee der Soldatenmütter hat ihr den Anwalt Oleg Tjurin vermittelt. Die Geschichte von Anton Kusnezow sei kein Einzelfall, meint er, sondern weitverbreitete Praxis. Vielen Soldaten sei es sogar lieber, zum Arbeiten verkauft oder verliehen zu werden, als normalen Dienst zu schieben: So hätten sie etwas Sinnvolles zu tun und würden ordentlich zu essen bekommen.
"Die Eingezogenen werden oft dazu gezwungen zu arbeiten, in privaten Fabriken zum Beispiel - sie sind praktisch Sklaven. Aber die Medien berichten nur selten darüber", erzählt Tjurin. "Auch junge Männer, die eigentlich vom Wehrdienst befreit sein sollten, etwa weil sie Alleinversorger einer Familie sind, werden einfach auf der Straße aufgegriffen und zwangseingezogen."
Freikauf und Bevölkerungsrückgang
Wer kann, kauft sich vom Armeedienst frei - es kursieren unterschiedliche Zahlen darüber, was es kostet, die Einberufungskommissionen zu bestechen, von etwa 2.000 Euro aufwärts. Aber die russische Armee hat ein Problem: Sie kann in ihrer jetzigen Form nur funktionieren, wenn pro Jahr etwa 300.000 junge Männer zum Armeedienst eingezogen werden. Doch die russische Bevölkerung schrumpfe rapide, erklärt der Demograph Sergej Vasin von der Hochschule für Wirtschaft in Moskau. So viele Menschen, wie die Armee brauche, gäbe es in Russland überhaupt nicht mehr.
"Die heutige Situation ist die Folge der 1990er Jahre", erklärt Vasin, "damals ist die Zahl der Geburten massiv zurückgegangen, aufgrund des wirtschaftlichen und des politischen Chaos. Heuer sehen wir den bisher stärksten Rückgang in dieser Alterskohorte: um etwa 120.000 Männer. Und in den nächsten Jahren wird die Zahl der 18-Jährigen weiter fallen."
Einberufung von Untauglichen
Bereits jetzt hat die Armee um ein Fünftel weniger Soldaten als sie eigentlich haben sollte. Die Einberufungskommissionen würden daher immer öfter zu illegalen Methoden greifen, beschwert sich der Bürgerrechtler und Arzt Iwan Samarin, dessen Organisation junge Männer vor der Einberufung unterstützt. Es komme immer häufiger vor, dass Leute eingezogen werden, die untauglich seien, wegen Krankheiten oder physischer Probleme.
"Der Generalstab denkt an diese Dinge nicht, oder genauer gesagt, er zieht die reale Situation im Land überhaupt nicht in Betracht", klagt Samarin. "Eines unserer Forschungszentren hat ausgerechnet, dass es spätestens im Jahr 2016 die Anzahl der Leute, die sie einziehen wollen, überhaupt nicht mehr geben wird. Für die Kranken, die eingezogen werden, bedeutet das eine Verschlimmerung ihrer Krankheit, oder im schlimmsten Fall den Tod!"
Einfordern von Rechten
Der Druck müsse von der Gesellschaft kommen, die jungen Leute müssten beginnen, sich zu wehren und bei der Einberufung für ihre Rechte einzutreten, meint der Bürgerrechtler, nur so könnten die katastrophalen Zustände in der Armee beendet werden.
"Wenn die Leute nicht bei sich selbst anfangen ändert sich nichts, sie müssen ihre Rechte und ihre Würde verteidigen. Das ist die Katastrophe der mittleren Klasse, vor allem in Zentralrussland. Sie hat keine Eigenverantwortung und kein Selbstwertgefühl. Sollte es die geben, kommt alles in Ordnung", meint Samarin - ein Wunsch, der bei der derzeitigen politischen Führung aber auf wenig Gegenlieben stoßen dürfte.
Der Schlachtruf der russischen Soldaten ist Hurra - ein Ruf, der den meisten Russen angesichts des Zustandes der Armee wohl im Hals stecken bleibt.
Service
The Russian Federation Ministry of Defence
Union of the CSMR (Komitee der Soldatenmütter)
RSUTE (Universität für Handel und Wirtschaft)
Ostblog - Blog von ORF-Korrespondent Markus Müller
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