Realistische Erwartungen, pragmatisches Handeln

Neustart von NATO und Russland?

Nach dem NATO-Gipfel in Bukarest und dem Georgienkrieg im Sommer 2008 waren die Beziehungen zwischen NATO und Russland auf einem historischen Tiefstand. Vieles hat sich inzwischen geändert. Präsident Medwedew wird beim NATO-Gipfel in Lissabon erwartet, obwohl Russland kein Mitglied ist.

Konstruktiver Dialog statt weiterem Streit

Für außenpolitische Beobachter und Sicherheitsexperten in Moskau bedeutet die Reise von Präsident Medwedjew nach Lissabon vor allem eine Zäsur. NATO und Russland möchten ein Kapitel abschließen, das die Beziehungen belastet. In Moskau hat man erkannt, dass der von Präsident George W. Bush noch vehement betriebene NATO-Beitritt von Georgien und der Ukraine unter Barack Obama nicht mehr verfolgt wird.

Timofei Bordatschew vom Zentrum für Europäische und Internationale Studien an der Moskauer Wirtschaftsuniversität sieht den Auftritt von Präsident Medwedjew in Portugal so: "Das, was man von Lissabon erwarten kann, ist das formale Ende dieser schwierigen Beziehungen zwischen Russland und der NATO in den letzten fünf Jahren. Aber vor allem nach dem Georgienkrieg im August 2008, als die Positionen unvereinbar waren und die Beziehungen eingestellt wurden."

Fjodor Lukjanow, Herausgeber der einflussreichen außenpolitischen Zeitschrift "Russia in Global Affairs", betont die zunehmenden Gemeinsamkeiten von Russland und der Allianz: "Es gibt einen Bedarf an einem konstruktiven Dialog. Die Atmosphäre ändert sich, auf beiden Seiten. Vor allem deshalb, weil die Allianz begreift, dass sich die Welt verändert hat, man neue Partner und neue Rezepte braucht, um die Probleme zu lösen. Auch in Russland ist man der Meinung, dass die Vorgänge in Asien viel wichtiger sind für die russische Entwicklung, und dass die Probleme in Europa nichts anderes sind als ein großer Luxus."

Heikle Kooperation in Afghanistan

Das wichtigste gemeinsame Projekt zwischen Russland und der NATO, da sind sich die russischen Experten einig, ist derzeit wohl Afghanistan. Allerdings ist genau das für Moskau ein Thema mit einer schweren historischen Hypothek. In den 1980er Jahren starben tausende sowjetische Soldaten für ein politisches Abenteuer, das nicht zu gewinnen war.

Afghanistan wurde so zum Menetekel für den Zerfall der Sowjetunion. Die Bilder des Abzugs der sowjetischen Truppen unter General Gromow, der Gang des einsamen Generals über die Brücke im Februar 1989, das sind Bilder, die sich in Russland einer gesamten Generation eingeprägt haben. Sie machen verständlich, warum an ein direktes Engagement Russlands in Afghanistan derzeit überhaupt nicht zu denken ist.

"Klarerweise kann es von russischer Seite in Afghanistan keinerlei Einmischung geben", erklärt Fjodor Lukjanow, "das wäre dumm und selbstmörderisch. Das heißt, das Thema kann nicht sein, wie man den Krieg gewinnt. Das wäre sinnlos. Sondern, erstens, wie geht man aus Afghanistan raus, ohne dass es für die NATO und die USA wie eine Niederlage aussieht? Zweitens: Wie schafft man ein regionales System, um die Risiken nach dem Rückzug der NATO so gering wie möglich zu halten?"

Für die NATO geht es um Nachschubwege für zivile Güter nach Afghanistan. Das ist ja auch schon gängige Praxis. Nun geht es auch um den Abtransport von zivilen und militärischen Gütern, um nicht zu sagen, den geordneten Rückzug. Russland will, gegen gutes Geld, die Möglichkeiten dafür bereitstellen.

Suche nach Stabilität

Mit dem Rückzug allein ist es für Moskau aber aus geopolitischen Gründen noch nicht getan. Auch im Hinblick auf die zentralasiatischen Republiken ist es für Russland wichtig zu wissen, wie die Zeit danach aussieht. Es geht um die politische Stabilität Afghanistans aber auch die Ausbildung und Bewaffnung der Streitkräfte.

Über die Risiken ist man sich dabei in Moskau völlig im Klaren, erklärt Fjodor Lukjanow: "Wenn man jetzt Piloten ausbildet, weiß man nicht, auf welcher Seite sie letztlich kämpfen werden. Aber da kann man nichts machen. Das ist eine Spezifik Afghanistans."

Timofei Bordatschow sagt über den Stand und Perspektiven der Zusammenarbeit zwischen Russland und NATO in Afghanistan: "Viele unserer Experten meinen ja schon jetzt ironisch, dass eigentlich nur noch fehlt, dass wir selbst Truppen nach Afghanistan entsenden, weil wir alles andere eigentlich ohnehin schon machen. Aber wir werden keine Truppen schicken. Das kann man nicht erwarten. Aber die Zusammenarbeit wird sich dort noch verstärken, wo es gemeinsame Interessen gibt, etwa im Bereich der Drogenbekämpfung."

Dauerbrenner Raketenschild

Wie ein Phantomschmerz begleitet die Diskussion um die Raketenschildpläne der Vereinigten Staaten die außenpolitische Diskussion der letzten Jahre. Wo immer einmal die USA, dann die NATO die Raketen und Radaranlagen installieren wollen, in Tschechien, Polen, Rumänien, Bulgarien oder in der Türkei, Russland ist unabänderlich der Meinung, der Raketenschild habe nur einen einzigen Zweck: Russland zu bedrohen und zur Aufrüstung zu zwingen.

Timofei Bordatschow sieht die Lage derzeit allerdings entspannt: "Die Diskussion ist in einer Phase, wo der eigentliche Gegenstand der Erörterung in den Hintergrund getreten ist. Und das ist die beste Voraussetzung dafür, dass die Diskussion um den Raketenschild noch sehr lange weitergehen kann. Das wichtigste Problem zwischen Russland und der NATO war Georgien und die Ukraine. In dem Moment, wo das vom Tisch war, gibt es nun keine gravierenden Spannungen mehr. Alles andere kann man noch viele Jahre vor sich herschieben."

Für den Herausgeber von "Russia in Global Affairs" Fjodor Lukjanow ist ebenfalls der virtuelle Charakter der Diskussion der Hauptpunkt. Wenngleich für Lukjanow ziemlich sicher ist, dass der Raketenschild irgendwann einmal wohl kommen wird: "Die Diskussion um den Raketenschild ist seltsam und war es immer. Es gibt einen politischen Aspekt - und hier geht es sehr turbulent zu - und einen technischen, der ist stabil, weil es den Raketenschild ja noch nicht gibt. Es ist ein Paradox, dass schärfste Konflikte um etwas geführt werden, was es nicht gibt. Allerdings sind alle amerikanischen Präsidenten seit Ronald Reagan der Meinung, dass es einen Raketenschild geben sollte. Und auch heute sagen alle amerikanischen Politiker: Der Raketenschild wird kommen."

START-Ratifizierung gefährdet?

Nach dem Wahlgang in den USA und der Stärkung der Republikanischen Partei ist auch der außenpolitische Spielraum der Administration Obama entscheidend eingeschränkt. Die Ratifizierung des neuen START-Vertrages ist für Russland der Lackmustest außenpolitischer Gestaltungsfähigkeit ihrer amerikanischen Partner.

"Letztlich bleibt die Frage, ob es überhaupt noch einen Sinn hat, mit der Administration Obama zu reden, die jetzt mit Händen und Füssen an den Kongress gefesselt ist", meint Lukjanow. "Der entscheidende Punkt ist die Ratifizierung. Wenn der START-Vertrag nicht ratifiziert wird, weil die Republikaner das nicht machen, dann wird jedes Gespräch mit Obama sinnlos sein. Wenn sie nicht durchsetzen können, was vorher ausgemacht war, worüber dann noch reden?"

Die Zeit der großen Erwartungen scheint vorerst in Washington und in Moskau vorbei zu sein. Präsident Medwedjew wird sein eigenes Sicherheitskonzept ins Spiel bringen. Der Raketenschild wird für Gesprächsstoff sorgen und in Afghanistan werden Russland und die NATO weiter austesten, wie weit das gegenseitige Vertrauen wirklich schon gediehen ist.

Service

NATO
The Russian Federation Ministry of Defence
RSUTE (Universität für Handel und Wirtschaft)
Russia in Global Affairs

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