Helfer kritisieren Europa

Irakische Christen flüchten in Türkei

Während sich die Europäer zugeknöpft zeigen, wird ausgerechnet die Türkei zu einem sicheren Hafen für verfolgte Christen aus dem Irak. Nach Anschlägen auf Kirchen in Bagdad verzeichnen Helfer einen verstärkten Zulauf. Derzeit halten sich rund 3.800 irakische Christen in der muslimischen Türkei auf, allein seit Anfang des Monats kamen 300 bis 400 Menschen.

Mittagsjournal, 01.12.2010

Haus gesprengt

Hochbetrieb in den Räumen der chaldäisch-assyrischen Vereinigung in einer Altstadtgasse von Istanbul. Auf Aramäisch berichten die jüngsten Neuankömmlinge aus dem Irak von der Lage in den dortigen Christenvierteln. Für den Mann am Empfang bringen sie schlechte Nachrichten mit: "Sie haben erzählt, dass unser Haus in Dora zerstört ist, mein Haus. Es ist gesprengt, weg."

Hadir Khawaja ist schon vor sechs Monaten hierher geflohen aus Dora, einem christlichen Viertel von Bagdad. Die Nachricht von dem Bombenanschlag auf sein Elternhaus betrübt den 37jährigen Ingenieur, überrascht ist er aber nicht: "Jeden Tag werden Menschen im Irak ermordet, vor allem Christen, jeden Tag. Wenn ich in Bagdad morgens zur Arbeit ging, wusste ich nie, ob ich abends heimkehren würde. Jederzeit könnte jemand kommen und dich umbringen. Wir erhielten eine Drohung, wir sollten aus unserem Haus verschwinden. Wir sind aus Bagdad geflohen, aber wir hatten nichts anderes, deshalb sind wir in die Türkei gekommen."

Türkei entgegenkommend

Hadir Khawaja ist nur einer von tausenden irakischen Christen, die Zuflucht in der Türkei gesucht haben. Alleine in den letzten Wochen sind 400 angekommen, sagt Monsignore Francois Yakan, türkischer Patriarchalvikar der chaldäischen Kirche, der die meisten irakischen Christen angehören: "Die Türkei gewährt ihnen bereitwillig Einreisevisa. Nicht so wie die europäischen Länder, die sind da leider ganz anders. Die Europäer sind knauserig, sehr knauserig. Aber die Türken lassen die Flüchtlinge einreisen. Es heißt, die irakischen Christen nehmen Zuflucht in der Türkei, und das stimmt auch."

Warten auf Asyl in Drittland

Fast 4000 irakische Christen sind bereits in der Türkei und warten teils seit Jahren darauf, dass das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen ihnen einen Platz in einem Drittland vermittelt. Die Türkei gewährt nicht-europäischen Flüchtlinge zwar selbst kein Asyl, sondern überlässt es den Vereinten Nationen, sie zu platzieren. Allerdings erlaubt sie es den Flüchtlingen, während der Wartezeit in der Türkei zu bleiben, wo sie immerhin schon einmal in Sicherheit sind. Trotzdem ist dies eine schwere Zeit für die Flüchtlinge, sagt Monsignore Yakan: "Sie warten hier im Schnitt zweieinhalb bis drei Jahre. Das ist sehr, sehr lange. Die psychologische Belastung ist sehr hoch, auch die materielle Belastung. Erst nach dieser Wartezeit können sie weiter nach Amerika, Australien oder Kanada."

Vorwürfe gegen Europa

Nur ganz selten werden irakische Christen von einem europäischen Land aufgenommen, sagt Yakan – deshalb die lange Wartezeit auf einen Platz in Übersee. Inzwischen werden die Flüchtlinge von türkischen Asyl- und Menschenrechtsvereinen betreut. Der türkische Staat steuert kostenlosen Schulbesuch für die Flüchtlingskinder bei. Die winzige chaldäische Gemeinde der Türkei, die selbst kaum tausend Mitglieder zählt, trägt trotzdem sehr schwer an dieser Last, sagt Monsignore Yakan. Er fragt sich, warum die Europäer nicht daran mittragen: "Ich verstehe das einfach nicht. Sie wissen doch, was da passiert, jeder weiß es. Die Türkei nimmt diese Flüchtlinge seit Jahren auf, warum verschließt Europa die Türen? Die Türkei hilft, aber die Europäer tun so, als gehe sie das alles nichts an."