Wie sich die Kunst Stadt aneignet
Freiräume auf Zeit?
Schauplatz Taborstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk: Wettbüros, Callshops, Solarien. Dazwischen die üblichen Lebensmittel- und Drogerieketten und je weiter man stadtauswärts geht: Leer stehende Geschäftslokale. Ein Bild, das an andere Wiener Bezirkseinkaufsstraßen erinnert. Denn: die meisten von ihnen haben schon bessere Tage gesehen.
8. April 2017, 21:58
Kulturjournal, 03.12.2010
Seit 42 Jahren führen die Museks einen Frisiersalon in der Taborstraße. So schlecht wie jetzt sei das Geschäft noch nie gewesen, klagen sie. Früher haben die Leute im Grätzel eingekauft, heute gehen sie lieber ins Einkaufszentrum. In den letzten Jahren haben immer mehr alt-eingesessene Geschäftsleute aufgegeben und neue sind gekommen. "Billigläden und Ein-Euro-Shops vor allem", sagt Herr Musek. "Aber das sehen Sie heute überall. Selbst in der Mariahilferstraße." Und seine Frau fügt hinzu: "Viele Geschäfte stehen leer. Dass da die Leute nicht mehr kommen, ist doch klar. Wer will schon bei leeren Schaufenstern vorbeispazieren?"
Zwischennutzungen sind im Trend
Damit sich das in Zukunft ändert, hat die Stadt Wien die beiden Architekten Mark Gilbert und Christian Aulinger beauftragt ein Revitalisierungskonzept für die Taborstraße zu entwickeln. Schließlich boomt der zweite Bezirk: Nach Künstlern und Kreativen hat eine junge, oft kaufkräftige Bevölkerungsgruppe die Leopoldstadt für sich entdeckt. Der Karmelitermarkt gehört längst zu den sogenannten Hotspots von Wien.
In Kürze eröffnet ein neues Designhotel am Donaukanal, das niemand Geringerer als Stararchitekt Jean Nouvel entworfen hat. Zum Gesicht dieses pulsierenden, modernen Stadtviertels passen weder verwaiste Geschäftslokale noch Billigläden. Und das Zauberwort der Stunde lautet: Zwischennutzung. Denn geht es nach Mark Gilbert und Christian Aulinger, wird die Taborstraße schon in Kürze von Künstlern aus Brooklyn bevölkert. Sie sollen den öffentlichen Raum temporär bespielen und dabei helfen, der Taborstraße eine neue Identität zu geben.
"Was in der Taborstraße passiert, ist Teil eines internationalen Trends", meint Mark Gilbert: "Unser Kaufverhalten hat sich verändert. In vielen Städten und Stadtvierteln haben ehemals florierende Einkaufsstraßen an Bedeutung verloren. Trotzdem wollen die Leute nicht, dass diese Straßen verwaisen. Wir glauben, dass die Kultur ein wichtiges Instrument der Stadtplanung sein kann, um neuen Nutzungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Ein Ort kann eine neue Identität entfalten, wenn man Künstler oder Kreative einlädt, auf einer temporären Basis Projekte im öffentlichen Raum zu realisieren", sagt Mark Gilbert.
Von Kunstfestival zum Stadtteilprojekt
Wie ein Kunstprojekt zu einem Stadtteil-, ja mehr noch zu einem Revitalisierungsprojekt werden kann, hat das Festival "Soho in Ottakring" längst vorgemacht. 1999 startete das Festival rund um den Wiener Brunnenmarkt. Eine Erfolgsgeschichte, die in etlichen verwaisten Geschäftslokalen, leer stehenden Textilgeschäften und einem ausrangierten Kaufhaus mit Retro-Charme begann. Denn es waren die günstigen, leer stehenden und ungenutzten Räume, die die jungen Künstler anfangs ins Viertel lockten. Räume, die kurzerhand in temporäre Galerien oder Ateliers verwandelt wurden. Anfangs ein Geheimtipp der jungen Wiener Kunstszene, wird "Soho in Ottakring" schon bald zum Publikumsmagneten.
Von Nogo zu Bobo?
Und aus der einstigen Nogo-Area rund um den migrantisch geprägten Brunnenmarkt wurde ein Trendviertel. Doch kein Erfolg ohne sie: die Nörgler. Von der drohenden Gentrifizierung des Brunnenmarktes war schon bald die Rede, davon also, dass das Viertel zum Aufmarschgebiet der bourgeoisen Boheme mutiert, die nicht nur ihren Lifestyle mitbringt, sondern auch die Mieten steigen lässt. Keine Aufwertung ohne Verdrängung? "Soho in Ottakring"-Initiatorin Ula Schneider weiß, dass künstlerische Zwischennutzungen mittlerweile von Immobilienentwicklern oder der Verwaltung strategisch gefördert werden, mit dem Ziel, urbane Aufwertungsprozesse in Gang zu setzen.
"Wenn man ein Kunstfestival organisiert, muss man wirklich aufpassen, damit es nicht vereinnahmt wird. Man muss sich der Gefahr, dass Investoren kommen und Verdrängungsprozesse stattfinden, bewusst sein", sagt Ula Schneider.
Sanfte Stadterneuerung statt Verdrängung
Für die Bezirksvertretung ist "Soho in Ottakring" ein Erfolgsmodell. Vor einigen Jahren wurde der Brunnenmarkt baulich neu gestaltet. Wohnungen und alte Mietshäuser werden nach und nach saniert. Von flächendeckender Verdrängung könne aber nicht gesprochen werden, sagt der Architekt Mark Gilbert:
"Wenn man Wien mit anderen Städten wie New York oder London vergleicht, ist klar, dass Gentrifizierungsprozesse hier nicht so ein Problem sind. Und das liegt an den gesetzlichen Rahmenbedingungen. Der Schutz von Mietern ist hier rechtlich verankert. Und das ist auch wichtig. Aber wenn man keine neuen Entwicklungen in einer Stadt zulässt, dann stirbt eine Stadt. Die größte Herausforderung für eine Stadt ist es, die Verdrängung des Bestehenden zu verhindern und gleichzeitig Veränderungen zuzulassen."
Spätestens seit den 1960er Jahren wurden diese Veränderungen wesentlich von künstlerischen Zwischennutzungen mitgeprägt. Denn es waren oft Künstler, die Brachen oder Leerräume im Stadtraum temporär besetzten, und das Potenzial dieser Räume erst entdeckten. Industriebrachen, wie zum Beispiel im New Yorker Stadtteil SoHo, wo Künstler in den 60er Jahren leer stehende Gebäude der abgewanderten Textilindustrie zu großzügigen Ateliers und Ausstellungsräumen umfunktionierten - lange bevor ein Loft zum Statussymbol wird, zur bevorzugten Heimstatt von Wall-Street-Yuppies oder angesagten Werbeagenturen. Spätestens seit den 1970er Jahren war die künstlerische Zwischennutzung auch für die Wiener Stadtgeschichte prägend.
Von der anarchischen Aneignung zur ökonomischen Einverleibung?
Im Frühling 1976 wird die schon im Titel klassenkämpferisch klingende "Proletenpassion" der Politrocker Schmetterlinge im Rahmen der Wiener Festwochen uraufgeführt. "Arena 76" heißt die Veranstaltungsreihe der Festwochen, die zeigen will, was in den etablierten Häusern keinen Platz findet.
Spielstätte der Veranstaltungsreihe ist der ehemalige Auslandsschlachthof in St. Marx. Denn in jenen Jahren ist das Festival urbanistische Avantgarde, sucht unentdeckte Räume außerhalb des repräsentativen Stadtraums. Als publik wird, dass der riesige Auslandsschlachthof abgerissen werden soll, besetzten Künstler und Studenten das Areal. Die Kulturwissenschaftlerin Angelika Fitz, die sich mit der Geschichte der künstlerischen Zwischennutzung in Wien auseinandergesetzt hat, weist darauf hin, dass die Arena-Besetzer ein neues Bewusstsein dafür geschaffen haben, dass auch Industriearchitektur erhaltenswert ist. Die Besetzer nahmen in den 1970er Jahren geradezu die Funktion von Denkmalschützern ein.
Ruinenchic war gestern
Heute sind Ausstellungen in verlassenen Fabriken, Lagerhallen und Gewerberäume fast zur Routine geworden. Sie sind raue Kulissen, deren Ruinenchic en vogue ist. Vielleicht weil sie im Gegensatz zum klinischen Ambiente des White Cube eine Geschichte erzählen. Ist die künstlerische Zwischennutzung also zum Selbstläufer geworden? Ist sie ständig von der ökonomischen Einverleibung durch Immobilienentwickler bedroht? Nicht unbedingt: Denn vielleicht sind es heute nicht mehr periphere Industriebrachen und Lagerhallen, sondern die auf die Bedürfnisse der Touristen ausgerichteten Stadtzentren, die im Brennpunkt einer neuen künstlerischen Befragung stehen sollten.