Fiktive Künstlerbiografie von William Boyd

Nat Tate

Der deutsche Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer meinte Anfang der 1980er Jahre zu seiner Mozart-Biografie, während der Arbeit an dieser Biografie wäre er zur Überzeugung gelangt, dass man Biografien nur über Personen schreiben könne, die nicht existiert haben. Also befreit von Wahrheitsskrupeln und alle Möglichkeiten schriftstellerischer Imagination ausschöpfend.

Hildesheimer hat nach seinem Mozart-Buch, das mit den süßlichen Mozart-Legenden Schluss machte und mit psychoanalytischem Instrumentarium arbeitete, das also ein Legendenzerstörungsbuch war, danach genau das Gegenteil gemacht: er hat eine Legende erzeugt, er hat eine fiktive Biografie geschrieben, über einen jungen englischen Aristokraten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der erkennen muss, dass seine künstlerische Begabung nicht an seine hohe Vorstellung von Kunst heranreicht. Marbot wählt den Freitod. Alles ist in dieser Biografie wahr, die historischen Umstände stimmen, das Milieu ist exakt beschrieben, nur das Zentrum all dessen ist eine Erfindung.

Vertreter des abstrakten Expressionismus'

William Boyd, der englische Erzähler, hat es ihm nachgetan. Wieder steht ein erfundener Künstler im Mittelpunkt, bei Boyd ist es der völlig vergessene Maler Nat Tate, "ein amerikanischer Künstler" und Vertreter des sogenannten abstrakten Expressionismus' mit den Lebensdaten 1928-1960. Auch er wurde wie Marbot nur knapp über 30 Jahre alt, auch ihn lässt sein Erfinder den Freitod wählen, aus Motiven, die denjenigen von Marbot bei Hildesheimer nicht unähnlich sind:

Der Kunstkritiker Mountstuart, ein Mentor und Wegbegleiter Tates, kommentiert dessen Tod mit den pathetischen Worten: "Sein Selbstmord lässt sich als eine gewaltige, unglückselige Ballung von Symbolen verstehen, er steht für Tates Kunst, seinen befreienden Ausstieg, seine Verzweiflung".

Party zu Ehren des Künstlers

Was bringt diese biografische Fiktion? Zunächst einmal ist sie in diesem Fall ein Ereignis. Denn, so informiert uns der Nachspann: Am 1. April des Jahres 1998 luden David Bowie und William Boyd ins New Yorker Atelier des Künstlers Jeff Koons. Nat Tate, der zu Unrecht Vergessene, sollte geehrt und gewürdigt werden. Die versammelte Kunstszene saß dem Schwindel anscheinend auf, die Gäste behaupteten, schon einmal etwas von Tate gehört zu haben, niemand wollte zugeben, vielleicht ignorant einem verkannten Genie gegenüber gewesen zu sein.

Das ist immerhin ein schöner Coup, der aufs Neue entlarvt, dass fast alles geglaubt wird, wenn es durch Prominenz gestützt wird, in diesem Fall durch den Popstar David Bowie und den Maler-Popstar Jeff Koons. Hildesheimer übrigens ließ seinen Marbot mit Goethe zusammentreffen, und der alte Goethe findet Gefallen an dem jungen englischen Kunstliebhaber.

Gefakte Fotografien

Das Buch ist sehr schön aufgemacht, fast ebenso wichtig wie der Text sind die Fotografien, die Tate selbst, seine Lebensumstände, berühmte Maler jener New Yorker Kunstszene der 1950er Jahre, die unter dem Label "abstrakter Expressionismus" zu Weltruhm gelangen sollte, Maler wie Willem de Kooning, zeigen.

Bei Fotografien stellt sich ein Wahrheitsreflex ein, mit dem das Buch kunstvoll spielt. Bilder müssen doch irgendwie wahr sein, obwohl wir es alle besser wissen oder besser wissen sollten: Das Vorsatzblatt des Buches zeigt die etwas unscharfe Fotografie eines ernst blickenden jungen Mannes in Breeches, Stiefeln, Hemd und Tweedsakko, wir sehen zahlreiche Fotos von Wegbegleitern und, das ist der Clou, auch Zeichnungen des Künstlers selbst, von Nat Tate, aus seinen berühmten Brückenserien. Der Copyright-Vermerk gibt an: Privatbesitz, Copyright Nat Tate.

Spiel mit Fakten und Fiktion

Warum Tate so sehr von Brücken angezogen war, dieses Geheimnis ist ungeklärt, nur so viel lässt sich sagen: Er war beeindruckt vom Langgedicht des 1932 im Alter von ebenfalls nur 33 Jahren gestorbenen amerikanischen Dichters Hart Crane, der nur zwei Gedichtsammlungen veröffentlichte: "White Buildings" und "The Bridge".

William Boyd hat die Biografie Nat Tates mit Versatzstücken aus Hart Cranes nachprüfbarer Biografie ausgestattet. Crane sprang am 27. April 1932 von Bord eines Schiffes, das ihn von Mexiko nach New York zurückbringen sollte. Cranes Gedicht war ein Unterfangen, "so kühn wie der Bau der Brooklyn Bridge über den East River", heißt es in einer Hommage.

Dieses Spiel mit Fakten und Fiktionen fügt der Serie an literarischen Porträts über sensible und labile Künstlerfiguren ein weiteres hinzu. Das Buch beansprucht eine innere Wahrheit, die über die Faktenwahrheit zu stellen ist. Am Schluss steht eine doppelseitige Schwarz-Weiß-Abbildung der legendären Brooklyn Bridge. Neben den Zeichnungen und Fotografien tragen die eingeführten Figuren, wie die Galeristin und der Kunstkritiker, aber auch der abgestattete Dank an die Nachlassverwalter zur biografischen Fiktion bei. Das alles ist sehr gekonnt.

Perfektes Konstrukt

Und der literarische Wert dieses literarischen Coups, wie es im Buch über die englische Originalausgabe heißt? Dies ist der schwächste Punkt: Wolfgang Hildesheimer schrieb seinen "Marbot" als psychoanalytische Versuchsanordnung, es gelang ihm, ein atmosphärisch dichtes Bild vom Beginn des 19. Jahrhunderts zu weben.

William Boyd wiederholt oder zitiert zu viele jener Klischees, die sich um die Greenwich-Village-Szene im New York der 1950er Jahre ranken. Das trägt zur Glaubwürdigkeit der Fiktion bei, Nat Tate bleibt jedoch eine Kunstfigur. Damit ist nicht gemeint, dass er durch schlechtes Psychologisieren zu einem konventionellen biografischen Objekt gemacht hätte werden sollen, aber es fehlt dem Buch, was gute Biografien, seien sie erfunden oder nicht, ausmacht: Empathie, Reflexion, Zeitanalyse, schlussendlich ein anderes, neues Verständnis menschlicher Kreativität.

Dafür ist der Text auch einfach zu kurz. Das Buch ist ein perfekt gestaltetes Konstrukt. Als Beitrag zum ungemein spannenden literarischen, auch filmischen Feld erfundener oder sehr frei mit ihrem biografischen Gegenstand umgehender Biografien ist es weniger interessant.

Service

William Boyd, "Nat Tate. Ein amerikanischer Künstler", Berlin Verlag

Berlin Verlag - Nat Tate