Roman von Laurent Gaudé

Das Tor zur Unterwelt

"Ich wollte von einem Abstieg in die Unterwelt erzählen", sagt der Autor. "Ich wollte wissen, ob die Leser im 21. Jahrhundert noch an so etwas glauben könnten. 'Orpheus und Eurydike' ist sicher die bekannteste Geschichte, aber es gibt auch Odysseus und viele andere Helden in der Mythologie, die in die Unterwelt gehen, und davon wollte ich erzählen."

Und so hat der französische Autor Laurent Gaudé einen phantastischen Roman geschrieben, einen Roman mit dem Titel "Das Tor zur Unterwelt", der von einer Reise ins Totenreich mitten im Neapel der 1980er Jahre erzählt.

Weiterleben in Gedanken

Zu Beginn scheint die Handlung fest in der Realität verwurzelt: Als der Taxifahrer Matteo seinen kleinen Sohn Pippo in die Schule bringt, fallen plötzlich Schüsse, Matteo wirft sich über Pippo, aber als er sich erhebt, ist sein Sohn tot. Laurent Gaudé behandelt ein düsteres Thema: den Verlust eines Menschen, den man liebt:

"Wenn man jemanden verliert, stirbt man selbst ein bisschen", meint Gaudé. "Es gibt aber noch einen anderen Aspekt: Wenn man jemanden verliert, der einem teuer ist, ist dieser Tote in uns sehr lebendig. Ich denke oft an Menschen, die nicht mehr da sind. Manchmal denke ich viel mehr an die Toten als an jene, die noch am Leben sind. Das heißt, sie sind noch immer da, in meinen Gedanken. Davon wollte ich erzählen, dass die Grenze, die wir zwischen dem Tod und dem Leben festlegen, viel komplizierter ist, als wir glauben."

Die Grenze zwischen Leben und Tod überwinden

Für Matteo und seine Frau Giuliana beginnt eine Zeit der Verzweiflung. Giuliana fordert ihren Mann auf, den Mörder ihres Sohnes zu töten, und als Matteo das nicht fertigbringt, wendet sie sich von ihm ab. Matteo seinerseits fährt ziellos mit seinem Taxi durch die Straßen, er weiß nicht, wie er den Verlust seines Sohnes verwinden soll und erst, als er in einer Bar drei merkwürdige Gestalten trifft, tut sich ihm ein Ausweg auf. Denn die drei - eine Hafenhure, ein Armenpriester und ein Professor - behaupten zu wissen, wie man die Grenze zwischen Leben und Tod überwinden kann.

Schauplatz Neapel

Nicht ganz umsonst hat Laurent Gaudé seinen Roman ausgerechnet in Neapel angesiedelt. Denn wie er sagt, ermöglicht nur diese Stadt ihm die nötige Durchlässigkeit, nur hier konnte er die Grenzen verschwimmen lassen und Matteos Gang in die Unterwelt glaubwürdig machen:

"Neapel ist eine Stadt am Fuß eines Vulkans, die in ihrer Geschichte oft Erdbeben und andere, schreckliche Dinge erlebt hat. Dort gibt es eine ständige Präsenz des Todes und zugleich eine große Lebensfreude. Neapel ist eine Stadt der Widersprüche, sie ist sehr schön und gleichzeitig sehr hässlich, sie ist sehr sanft und sehr gewalttätig, diese Widersprüche haben mir diese Durchlässigkeit ermöglicht."

Und so lässt Gaudé den Taxifahrer im Totenreich nach seinem Sohn suchen, in einer düsteren Unterwelt, die an Dantes "Inferno" erinnert und in der nur die Liebe ihrer Angehörigen die Toten vor der gänzlichen Auflösung bewahrt. "Ich wollte mir ein Land Todes vorstellen", sagt Gaudé. "Wie sieht es aus, wie riecht es, welche Farben hat es, gibt es Hügel und so weiter. Ich denke nicht, dass das mit Phantastik zu tun hat, in der Mythologie gibt es viele solcher Erzählungen."

Die Grenzen der Wirklichkeit auflösen

Es ist ein ungewöhnlicher und fesselnder Roman, den der französische Autor vorlegt, ein Roman, der die Grenzen der Wirklichkeit auflöst, der mit mythologischen Motiven spielt und in dem Laurent Gaudé die Frage stellt, ob es möglich ist, dem Tod entgegenzutreten: "Ich habe große Angst vor dem Tod. Aber mir gefällt die Idee, den Mut zu haben, ihn herauszufordern. Ich weiß nicht, ob ich den Mut dazu hätte, aber in der Literatur mag ich die Figuren, die darüber verfügen."

Rund ein Jahr hat Gaudé an seinem Roman geschrieben. Inhaltlich sei alles ganz klar gewesen, sagt er, und nach und nach habe sich auch die Struktur wie von selbst entwickelt: "Ich möchte von Anfang an wissen, was den Hauptfiguren zustößt. Vorher beginne ich nie zu schreiben. Und wenn ich mit dem Schreiben beginne, verändern sich manche Dinge, Dinge, die ich nicht vorhergesehen habe. Im Fall von 'Das Tor zur Unterwelt' war es die Struktur, die auf ein gutes Ende hinausläuft. Zum Glück kann man doch nicht alles im Vorhinein festlegen."

Zwischen Realität und Phantasie

Und lebendig ist auch der Roman, mitreißend in seinem Spiel mit Realität und Phantasie, liebevoll konstruiert, ernsthaft, ohne belehrend zu sein, mitunter erschreckend und mitunter überraschend. Laurent Gaudé führt Leben und Tod nah zusammen, er überwindet in seinem Schreiben die Grenzen und nimmt den Leser mit auf eine phantastische, spannende, herzzerreißende Reise, auf der Fragen aufgeworfen werden, die sich jeder schon irgendwann einmal gestellt hat:

"Ich denke, die Literatur ist eine Reise in die menschlichen Gefühle und dank der Lektüre macht man grundlegende Erfahrungen. In den Büchern, die ich liebe, begegne ich dem Blick des Autors auf die Welt. Ich hoffe, dass der Leser die Art mag, wie ich die Menschen sehe, wie ich die Welt beschreibe. Wenn man das als Begegnung begreift, ist das wunderbar."

Service

Laurent Gaudé, "Das Tor zur Unterwelt", aus dem Französischen übersetzt von Frank Sievers, dtv

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