Merle Hilbk über ihre "All-Inklusive-Zonentour"
Tschernobyl Baby
Am 26. April ist der AKW-Unfall im Reaktor von Tschernobyl 25 Jahre her - das traurige Jubiläum ist schon knapp einen Monat vor seinem Jahrestag näher denn je: Die aktuelle Katastrophe im japanischen AKW Fukushima erinnert an den Super-GAU in Tschernobyl 1986.
27. April 2017, 15:40
In dem Buch "Tschernobyl Baby, wie wir lernten das Atom zu lieben" erzählt die deutsche Journalistin Merle Hilbk über eine Generation, die Tschernobyl verändert hat. Mit einer "All-Inklusive-Zonentour" reist sie in das Sperrgebiet rund um den Reaktor in der ehemaligen Sowjetunion, besucht die Geisterstadt Pripjat und zeichnet ein Stimmungsbild vom Leben in den Grenzgebieten. Als eine soziale Katastrophe, eine Katastrophe, die die Gesellschaft atomisierte, beschreibt Merle Hilbk die Ereignisse in Tschernobyl.
Besuch der Sperrzone
Bei einem Röntgen werden wir der Strahlung von ein bis zwei Millisievert ausgesetzt, gefährlich wird es ab einer der Größenordnung von einem Sievert pro Stunde. Es geht im Moment nicht anders, als das Buch mit der aktuellen Katastrophe in Japan im Hinterkopf und mit Gänsehaut zu lesen und die Szenen miteinander zu vergleichen.
30 Kilometer um den Tschernobyl-Reaktor ist jetzt Sperrzone, Stacheldrahtzäune und Schilder warnen: "Radioaktive Gefahr" und "Einfahrt verboten". In Fukushima werden die Menschen evakuiert beziehungsweise aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben.
Das fiepende Geräusch des Geigerzählers hat die Journalistin Merle Hilbk während ihrer Tschernobyl-Reportage oft gehört. Erstes Ziel ihrer Reise in die Ukraine ist der Reaktor Nummer 4, der Radioaktivität von mehr als 100 Hiroshima-Bomben freigesetzt hat.
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In meiner Vorstellung war dieser Ort seit 1986 immer eine Kulisse aus einer anderen Welt gewesen, ein bisschen "Blade Runner", ein bisschen "I am Legend", eine apokalyptische Filmwelt irgendwo hinter dem Eisernen Vorhang. Die Realität heute ist: eine Industrieruine in the middle of nowhere, profan, hässlich, unspektakulär. Eine Enttäuschung - und gleichzeitig eine Erleichterung. Die Entmystifizierung von Tschernobyl.
Bild einer Geisterstadt
Einreise-Genehmigung, Fahrer, Dolmetscher und alles andere Notwendige organisiert die Website pripyat.com, die "All-Inklusive-Zonentouren" anbietet. Ein fast absurder Name für eine nicht alltägliche Reise. Auf dem Sightseeing-Programm steht auch die Stadt Pripjat, jene Stadt, die am nächsten beim Reaktor liegt. Hilbk zeichnet das Bild einer Geisterstadt, eines Provisoriums, das auf die Geometrie reduziert ist. Wie aus einem Horrorfilm, den man nicht ausschalten kann, auch wenn man eigentlich nicht mehr hinschauen möchte.
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Alles ist von einer grauen Staubschicht überzogen: ein zäher klebriger Staub. Ich hebe eine Puppe hoch, puste ein bisschen. "Njet" brüllt Sergei, "der Staub ist voll mit Strontium." Unsere Geigenzähler piepsen im Chor, dreieinhalb Millisievert pro Stunde. Das entspricht etwa der natürlichen Strahlenbelastung eines Deutschen im ganzen Jahr. Der Dolmetscher flüchtet sich schwer atmend ins Freie. Sergej drängt hinterher und lacht.
Die Stadt Pripjat wurde am 27. April 1986 evakuiert. Die Bewohner waren nicht darüber informiert worden, dass im nur vier Kilometer entfernten Reaktor der GAU, der größte anzunehmende Unfall, eingetreten ist. Bei schönem Wetter, unter blauem Himmel und einer radioaktiven Wolke haben viele den 26. April damals draußen verbracht, erzählt einer der Bewohner. Erst als schon Soldaten in Schutzanzügen unterwegs waren, wurden die Menschen evakuiert.
Maschas Heimatdorf
Merle Hilbk beschreibt sehr klar, sehr direkt. Das Buch ist ein Mix aus Roadtrip und Reportage, viele Verweise auf Musik und Songtexte machen die Erzählung sehr lebhaft und weniger trist. Viel Zeit verbringt die Journalistin mit ihrer Bekannten Mascha, die 1986 im Grenzgebiet geboren wurde. In ihrem Heimatdorf sieht es wie in einem klischeehaften Russland-Film aus. Ein Dorf, in das die Leute wieder zurückehren, obwohl es an der 30-Kilometer-Sperrzone zum Reaktor liegt.
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Eine Kulisse aus einer dieser pathetischen Dokus, in denen alte Männer mit Märchenerzählerbariton von der "russischen Seele" fabulieren, während im Hintergrund ein Akkordeon "Kalinka" oder "Katjuscha" näselt. Eine Kulisse, in der ich die letzte Woche verbracht habe und Mascha ihr ganzes Leben.
Mascha ist in den 1990er Jahren mit der Organisation "Kinder aus Tschernobyl" über die Sommerferien immer wieder zu Gastfamilien gefahren. Die Gastmutter habe ihr Gewand mit den Worten "das strahlt ja wie verrückt" in Säcke gestopft und neues gekauft, erzählt sie von ihrer ersten Reise.
Die Journalistin beschreibt, wie auch Jahre später noch immer zwei Welten aufeinander treffen. Das deutsche aufgeregte Protest-Anti-AKW-Tschernobyl-Gefühl und die beinahe gleichmütige, resignierte Haltung der in der Ukraine lebenden Menschen.
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Auch die Leute in Maschas Dorf sind mit dem Überleben beschäftigt. Vielleicht ist das der Grund, warum Mascha sich bisher nicht für Tschernobyl interessiert hat. Ein Alltag, der so aufreibend ist wie der im Südosten von Belarus - in einem von Armut, Krankheit und Hoffnungslosigkeit gezeichneten Landstrich - lässt keinen Raum für die Vergangenheit.
Von der Katastrophe "wachgerüttelt"
Merle Hilbk erzählt viel von den politischen Parteien und Anti-Atomkraft-Bewegungen in Deutschland. Besorgte Anrufe aus der Heimat erinnern Merle Hilbk auch an ihr eigenes Tschernobyl-Gefühl. Tschernobyl habe sie damals, 1986, wachgerüttelt, schreibt sie, und von ihrer Leidenschaftslosigkeit befreit.
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Beinahe jeden Abend höre ich sie durch den Telefonhörer, diese Stimmen aus Deutschland, die sich scheinbar ironisch nach meinem Gesundheitszustand erkundigen. Die Scherze machen über mutierte Zellen, Verwachsungen, über Krebs und Panikattacken - nur um nicht zu zeigen, wie beunruhigt sie sind, für wie unheimlich sie dieses Land, diese Strahlung, diese ganze Reise halten. Wie sehr der Gedanke sie an ihre eigene Tschernobyl-Angst erinnert. Wie präsent diese Angst noch in Deutschland ist, präsenter als in diesem Dorf am Rand der Sperrzone.
Es ist beklemmend, während Nachrichten im Minutentakt im Live-Ticker aus und über Japan eintrudeln, über den Super-GAU von Tschernobyl zu lesen. Über die Folgen, die 25 Jahre danach noch immer zu spüren sind. Über Folgen, die teilweise erst 25 Jahre danach zum Vorschein kommen. 25 Jahre, die offenbar nicht zum Umdenken gereicht haben. Merle Hilbk zitiert abschließend aus einem Songtext der deutsche Band Freundeskreis, die passend dazu singt: "Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte."
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Merle Hilbk, "Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben", Eichborn Verlag
Eichborn - Tschernobyl Baby