Merle Hilbk über ihre "All-Inklusive-Zonentour"

Tschernobyl Baby

Am 26. April ist der AKW-Unfall im Reaktor von Tschernobyl 25 Jahre her - das traurige Jubiläum ist schon knapp einen Monat vor seinem Jahrestag näher denn je: Die aktuelle Katastrophe im japanischen AKW Fukushima erinnert an den Super-GAU in Tschernobyl 1986.

In dem Buch "Tschernobyl Baby, wie wir lernten das Atom zu lieben" erzählt die deutsche Journalistin Merle Hilbk über eine Generation, die Tschernobyl verändert hat. Mit einer "All-Inklusive-Zonentour" reist sie in das Sperrgebiet rund um den Reaktor in der ehemaligen Sowjetunion, besucht die Geisterstadt Pripjat und zeichnet ein Stimmungsbild vom Leben in den Grenzgebieten. Als eine soziale Katastrophe, eine Katastrophe, die die Gesellschaft atomisierte, beschreibt Merle Hilbk die Ereignisse in Tschernobyl.

Besuch der Sperrzone

Bei einem Röntgen werden wir der Strahlung von ein bis zwei Millisievert ausgesetzt, gefährlich wird es ab einer der Größenordnung von einem Sievert pro Stunde. Es geht im Moment nicht anders, als das Buch mit der aktuellen Katastrophe in Japan im Hinterkopf und mit Gänsehaut zu lesen und die Szenen miteinander zu vergleichen.

30 Kilometer um den Tschernobyl-Reaktor ist jetzt Sperrzone, Stacheldrahtzäune und Schilder warnen: "Radioaktive Gefahr" und "Einfahrt verboten". In Fukushima werden die Menschen evakuiert beziehungsweise aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben.

Das fiepende Geräusch des Geigerzählers hat die Journalistin Merle Hilbk während ihrer Tschernobyl-Reportage oft gehört. Erstes Ziel ihrer Reise in die Ukraine ist der Reaktor Nummer 4, der Radioaktivität von mehr als 100 Hiroshima-Bomben freigesetzt hat.

Bild einer Geisterstadt

Einreise-Genehmigung, Fahrer, Dolmetscher und alles andere Notwendige organisiert die Website pripyat.com, die "All-Inklusive-Zonentouren" anbietet. Ein fast absurder Name für eine nicht alltägliche Reise. Auf dem Sightseeing-Programm steht auch die Stadt Pripjat, jene Stadt, die am nächsten beim Reaktor liegt. Hilbk zeichnet das Bild einer Geisterstadt, eines Provisoriums, das auf die Geometrie reduziert ist. Wie aus einem Horrorfilm, den man nicht ausschalten kann, auch wenn man eigentlich nicht mehr hinschauen möchte.

Die Stadt Pripjat wurde am 27. April 1986 evakuiert. Die Bewohner waren nicht darüber informiert worden, dass im nur vier Kilometer entfernten Reaktor der GAU, der größte anzunehmende Unfall, eingetreten ist. Bei schönem Wetter, unter blauem Himmel und einer radioaktiven Wolke haben viele den 26. April damals draußen verbracht, erzählt einer der Bewohner. Erst als schon Soldaten in Schutzanzügen unterwegs waren, wurden die Menschen evakuiert.

Maschas Heimatdorf

Merle Hilbk beschreibt sehr klar, sehr direkt. Das Buch ist ein Mix aus Roadtrip und Reportage, viele Verweise auf Musik und Songtexte machen die Erzählung sehr lebhaft und weniger trist. Viel Zeit verbringt die Journalistin mit ihrer Bekannten Mascha, die 1986 im Grenzgebiet geboren wurde. In ihrem Heimatdorf sieht es wie in einem klischeehaften Russland-Film aus. Ein Dorf, in das die Leute wieder zurückehren, obwohl es an der 30-Kilometer-Sperrzone zum Reaktor liegt.

Mascha ist in den 1990er Jahren mit der Organisation "Kinder aus Tschernobyl" über die Sommerferien immer wieder zu Gastfamilien gefahren. Die Gastmutter habe ihr Gewand mit den Worten "das strahlt ja wie verrückt" in Säcke gestopft und neues gekauft, erzählt sie von ihrer ersten Reise.

Die Journalistin beschreibt, wie auch Jahre später noch immer zwei Welten aufeinander treffen. Das deutsche aufgeregte Protest-Anti-AKW-Tschernobyl-Gefühl und die beinahe gleichmütige, resignierte Haltung der in der Ukraine lebenden Menschen.

Von der Katastrophe "wachgerüttelt"

Merle Hilbk erzählt viel von den politischen Parteien und Anti-Atomkraft-Bewegungen in Deutschland. Besorgte Anrufe aus der Heimat erinnern Merle Hilbk auch an ihr eigenes Tschernobyl-Gefühl. Tschernobyl habe sie damals, 1986, wachgerüttelt, schreibt sie, und von ihrer Leidenschaftslosigkeit befreit.

Es ist beklemmend, während Nachrichten im Minutentakt im Live-Ticker aus und über Japan eintrudeln, über den Super-GAU von Tschernobyl zu lesen. Über die Folgen, die 25 Jahre danach noch immer zu spüren sind. Über Folgen, die teilweise erst 25 Jahre danach zum Vorschein kommen. 25 Jahre, die offenbar nicht zum Umdenken gereicht haben. Merle Hilbk zitiert abschließend aus einem Songtext der deutsche Band Freundeskreis, die passend dazu singt: "Leg dein Ohr auf die Schiene der Geschichte."

Service

Merle Hilbk, "Tschernobyl Baby. Wie wir lernten, das Atom zu lieben", Eichborn Verlag

Eichborn - Tschernobyl Baby