Roman von Yannick Haenel
Das Schweigen des Jan Karski
Yannick Haenel spürt dem polnischen Offizier Jan Karski literarisch nach in einem Roman, der bei Kritikern nicht ganz umsonst einigermaßen umstritten ist. "Das Schweigen des Jan Karski" heißt das Buch, in dem Haenel sich der Person Karski anzunähern versucht und dazu eine Dreiteilung vornimmt.
8. April 2017, 21:58
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Was von Anfang an bei diesem Mann ins Auge springt, ist seine Vornehmheit - eine verletzte Vornehmheit. Die Zeit gräbt sich in Jan Karskis Bewegungen ein, ohne sie auszulöschen; im Gegenteil, die Prüfungen, die er durchgemacht hat, lassen sich an seinen untadeligen nervösen Händen ablesen. Eine unglaubliche Kraft strahlt aus seinen klaren Augen: eine kalte Intelligenz, die Entschlossenheit eines Mannes, der es gewohnt ist, zu schweigen und mit dem Geheimnis zu leben; die Radikalität eines "Agenten des Widerstands", die jedoch von den Tränen in seinen Augen gemildert wird.
So sieht der französische Autor Yannick Haenel den polnischen Offizier und Kurier des Widerstands Jan Karski.
Das Grauen im Warschauer Ghetto
Im ersten Teil des Buches erzählt er von einem Interview, das der Regisseur Claude Lanzmann 1978 für seine Dokumentation "Shoah" mit Karski führte. Für dieses Interview brach der Pole sein Schweigen über die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg, er sprach darüber, wie er ins Warschauer Ghetto eingeschleust wurde und das Grauen dort mit eigenen Augen sah. In seiner Beschreibung dieses Gesprächs versucht Yannick Haenel, sich in Jan Karskis Innenleben einzufühlen und so entsteht eine merkwürdige Melange aus Historie und Literatur.
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Genau das hatte Jan Karski am Anfang des Interviews gefürchtet: dieses Erstarren im Entsetzen, das er an jenem Tag im Herbst 1942 verspürt hatte, im Warschauer Ghetto, in der Nähe des Todes. Er wollte es nicht wieder durchleben, und er durchlebt es erneut. Genau in diesem Moment meint man, wenn man Jan Karski zuhört, nicht mehr, eine Stimme komme aus einem Körper, es ist vielmehr der Körper von Jan Karski, der aus seiner Stimme hervortritt. Denn seine Stimme scheint ihn sich selbst zu offenbaren; er ist endlich der, den er am Anfang des Interviews nicht erreichen konnte: Nicht ein anderer, sondern diese Person in ihm beugt sich dem Geheimnis des Wortes: der Zeuge.
Karskis "Bericht an die Welt"
Der zweite Teil des Buches ist so etwas wie eine Nacherzählung: 1944 hat Karski seine Erinnerungen aufgeschrieben und diesen "Bericht an die Welt" in den USA veröffentlicht. An diesem Bericht arbeitet sich Haenel entlang, er erzählt, wie Karski kurz nach Kriegsausbruch in sowjetische Gefangenschaft gerät und mit Mut und Glück aus dem Lager fliehen kann, wie er der polnischen Heimatarmee beitritt und als Kurier zwischen der Exilregierung in London und der Führung in Polen fungiert, wie er Nachrichten quer durch Europa befördert und jedes Mal befürchten muss, in die Hände der Gestapo zu fallen - und wie er darunter leidet, dass die Welt vor den Gräueltaten der Nazis in Polen vielfach die Augen verschließt.
Dabei macht Haenel kein Geheimnis daraus, dass er Karskis Bericht als Vorbild genommen hat und das lässt den Text mitunter mehr wie eine Rezension als wie einen Roman erscheinen.
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An dieser Stelle bedauert Jan Karski in seinem Buch, dass die Opfer der Polen von der Welt nicht anerkannt werden. Aus seinen Zeilen sprechen Bitterkeit und das Gefühl von Unrecht: Die Alliierten haben nicht auf die Zerschlagung seines Heimatlandes reagiert, sie werden auch fünf Jahre später nicht auf den Warschauer Aufstand reagieren, sondern zulassen, dass die Polen niedergemetzelt werden. Er erinnert daran, dass Polen in puncto Demokratie von niemandem belehrt werden muss: Seine Regierung paktiert nicht mit den Nazibesatzern wie die Regierungen anderer Länder. Jan Karski schreibt diskret, deutet nur an, aber in seinen Augen und in den Augen des polnischen Volkes wurde Polen offenbar damals bis heute im Stich gelassen. Von Europa, von der Geschichte, vom Gedächtnis der Zeit.
All das erzählt Haenel flüssig, eingängig und stilistisch sauber, aber im Grunde nicht wie ein Romancier. Er gibt sich als Chronist, dem es nicht um Charaktere oder Szenen, sondern um den Verlauf der Ereignisse geht, und nur in manchen Passagen schimmert der Romanautor durch, etwa wenn er Karski im sowjetischen Gefangenenlager zu der, wie er schreibt, "schwindelerregenden Erkenntnis" gelangen lässt, dass das Böse keinen Grund hat.
Fast eine Nacherzählung
Meist jedoch beschränkt sich Haenel darauf, die Geschehnisse schlicht nachzuerzählen. Beim Versuch, einen Mikrofilm durch die Slowakei nach Ungarn zu schmuggeln, wird Karski von der Gestapo verhaftet, man unterzieht ihn unzähligen Verhören, er wird geschlagen und gedemütigt und fasst einen Entschluss:
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Als Jan Karski wieder in seiner Zelle auf dem Strohsack liegt, ist er am Ende. Sein Gesicht, schreibt er, hat nichts Menschliches mehr - es ist blutüberströmt und geschwollen. Vier Zähne hat er verloren, alles tut ihm weh, der Schmerz ist unerträglich, ein weiteres Verhör wird er nicht überleben. Deshalb beschließt er, Schluss zu machen. Mit der Rasierklinge schneidet er sich ins linke Handgelenk. Aber er erreicht die Pulsader nicht. Er versucht es nochmal, drückt die Klinge tief ins Fleisch. Das Blut sprudelt hervor wie aus einer Quelle. Dann schneidet er ins andere Handgelenk. Er liegt ausgestreckt, die Arme am Körper, das Blut bildet eine Pfütze. Nach ein paar Minuten wird er schwächer. Das Blut versiegt. Deshalb bewegt er die Arme durch die Luft, damit das Blut weiter fließt. Es spritzt, strömt heraus. Jan Karski bekommt keine Luft mehr, er versucht, durch den Mund zu atmen. Ihm wird übel, er übergibt sich und verliert das Bewusstsein.
Der Selbstmordversuch misslingt, Karski wird ins Krankenhaus gebracht und kann von dort mithilfe seiner Kameraden fliehen. Man gibt ihm eine neue Identität und er setzt seine Arbeit als Informant fort. Auch hier hält sich Yannick Haenel eng an Karskis Beschreibungen und bleibt als Autor im Hintergrund.
Begegnung mit Roosevelt
Romanhafter wird er erst im dritten Teil des Buches, in dem er Karski selbst erzählen lässt, von seinem Besuch beim amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der sich von Karski über das Ausmaß des Völkermords informieren lassen möchte. Aber Haenels Roosevelt ist ein gelangweilter Zuhörer, den die Beine seiner Sekretärin mehr interessieren als das, was Karski zu erzählen hat. Hier verlässt Haenel die historischen Pfade und erfindet seinen eigenen Jan Karski.
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Ich hatte an jenem Abend eine Eingebung: Wer sich vom Bösen abwendet und sich weigert zu hören, dass es existiert, wird selbst ein Teil davon. Wer sich weigert, das Böse zu hören, wird der Komplize des Bösen, das habe ich zum Botschafter gesagt, als wir das Weiße Haus verließen. Und er sagte, ehe wir uns verabschiedeten, folgenden Satz, an den ich oft denke: "Die Taubheit ist nur eine List des Bösen." Denn die Menschen folgen nur ihren Interessen; und es war eben im Interesse von niemandem, die europäischen Juden zu retten, weshalb niemand sie gerettet hat.
Diese Anklage zieht sich durch den gesamten dritten Teil des Buches und es ist fraglich, ob Haenel Jan Karski damit einen Gefallen getan hat. Sein Karski ist voll Zorn auf die Welt, der er vorwirft, nichts gegen die Massenmorde der Nazis in Polen unternommen zu haben. Ein legitimer Standpunkt, aber in der endlosen Wiederholung dieser Anklage wird Karski zu einem verbitterten und larmoyanten alten Mann, in dessen Wehklagen literarisch gelungene Sätze unterzugehen drohen.
Fast ein Held
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Ich verkörperte gewiss jene Art Helden, wie ihn Amerika braucht, um sein schlechtes Gewissen zu nähren, denn immer ein bisschen schlechtes Gewissen zu haben ist eine wunderbare Art, sein gutes Gewissen zu verbessern.
Wäre Jan Karski selbst mit Haenels Buch einverstanden? Fragen kann man ihn nicht mehr; er starb im Jahr 2000. Seine Erinnerungen jedoch haben überlebt, sein "Bericht an die Welt" ist gerade erst auf Deutsch erschienen. Und so bleibt offen, ob es nötig ist, Haenels Buch zu lesen, wenn man doch Jan Karski direkt lesen kann - eine Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss.
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Yannick Haenel, "Das Schweigen des Jan Karski", Rowohlt Verlag
Rowohlt - Das Schweigen des Jan Karski