Im Haus der Kindheit

Stefan Slupetzky trifft seinen Vater

"Bei den üblichen Begegnungen ist es so, dass zwei Leute einander begegnen, und bei den außergewöhnlichen Begegnungen ist es so, dass einer dem anderen begegnet, indem er auf die Welt kommt." Wenn der Schriftsteller Stefan Slupetzky von einer außergewöhnlichen Begegnung spricht, dann meint er die mit seinem Vater.

"Ich kann über meinen Vater nicht sagen, dass er mir begegnet wäre, aber ich bin ihm begegnet." Stefan Slupetzkys Vater stammt aus einer nationalsozialistisch gesinnten Familie. Doch er heiratet gegen alle Widerstände eine Jüdin und wird infolgedessen enterbt. Als Sohn Stefan acht Jahre alt war, übersiedelte die Familie in ein Haus am Wiener Kahlenberg, in ein kleines Paradies, wie der Schriftsteller sagt.

Stefan Slupetzky, Schriftsteller

"Ich halte das, was zwischen Menschen passiert, für nicht messbar, aber spürbar und fühlbar."

"Unsere Nachbarn waren Bauern mit einer Hühnerzucht, es war damals noch eine intakte Kultur da oben, in die wurde ich hineingeworfen, und ich habe dieses Leben aufgesaugt. Meine emotionale Bindung an dieses Haus ähnelt der emotionalen Bindung zu meinem Vater. Es war kein schönes Haus, ein schmuckloser Zweckbau, aber es vermittelte Geborgenheit und Ruhe, ich hab mich darin wohl gefühlt. Und in meinem Vater habe ich mich auch wohlgefühlt. Und ich hatte immer eine schöne Aussicht."

Über das Haus seiner Kindheit hat Stefan Slupetzky einen berührenden Text mit dem Titel "Der Kahlenberg" geschrieben; seinem Vater wird er ein Buch widmen: Immer wieder erscheine er ihm in seinen Träumen, sagt Slupetzky; und schon oft glaubte er, ihm tatsächlich auf der Straße zu begegnen. Slupetzky spinnt dann Geschichten um diese vermeintlichen Begegnungen, in denen der Vater ein zweites Leben führt und manchmal in die Stadt seines Sohnes zurückkehrt. Mit den Mitteln der Literatur hofft Stefan Slupetzky, Ordnung in seinen Erinnerungen zu schaffen und gleichsam sein Leben neu zu erzählen. Im Glücksfall machen sich diese Erzählungen dann selbstständig - und Slupetzky braucht bloß mitzuschreiben, was sie ihm diktieren:

"Ich genieße diesen schönen Vorgang, denn ich fühle mich dann als Teil eines magischen Vorgangs."

Aus Kinderbüchern werden Krimis

Stefan Slupetzky war ursprünglich bildender Künstler, der lange Jahre gleichsam nebenbei Kinderbücher schrieb und diese auch selbst illustrierte. Weil die Themen immer schwärzer und morbider wurden, gerieten die Kinderbücher zu Krimis, die wiederum preisgekrönt und - wie etwa "Der Fall des Lemming" - verfilmt wurden. Zudem ist Stefan Slupetzky Mitglied der Musikgruppe Trio Lepschi, mit der er übrigens am Sonntag, 17. Juli 2011, beim Festival Glatt & Verkehrt auftritt. Und auch in den Musiktexten von Trio Lepschi hat Slupetzkys Vater seine Spuren hinterlassen.

Mit dem Verlust seines Vaters, der mit 58 Jahren an einem Herzinfarkt starb, verbindet Stefan Slupetzky einen allgemeinen Verlust: den Verlust unternehmerischen Anstands in der Gesellschaft. Sein Vater, ein erfolgreicher Unternehmer in der Sparte Werkzeugbau, verkörperte in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ein längst verschwundenes Berufs-Ethos:

"Ein verdienstvoller Angestellter hatte einmal einen Raufhandel angefangen und kam ins Gefängnis; die gesamte Umgebung hat diesen Mann fallen gelassen, nur Vater fuhr ins Gefängnis und sagte, das war zwar nicht gescheit, was du getan hast, aber wenn du raus rauskommst, bist du wieder willkommen, sofern das kein zweites Mal geschieht!"

Keine Moral mehr

Stefan Slupetzky thematisiert in seinen Büchern immer wieder gesellschaftliche Schieflagen; vor Augen hat er dabei stets die moralische Integrität seines Vaters.

"Die moralische Übereinkunft wurde über Bord geworfen. Auf der einen Seite steht die rigorose Behandlung von Anders-Seienden - etwa von Rauchern, Trinkern, Dicken -, auf der anderen Seite steht die rücksichtslose Zerstörung der Umwelt und der arbeitenden Schicht, die ausgesaugt wird, um selbst noch mehr Profit zu machen und den Reichtum noch mehr auf wenige zu konzentrieren: Da sagt niemand etwas dagegen!"

"Mich hat eines Abends die Nachricht ereilt, mein Vater sei plötzlich umgefallen, gestorben. Ich bin rausgefahren ins Haus meiner Eltern, da lag er, noch nicht abtransportiert. Seine Hände waren bereits kühl, ich habe sie aufgemacht, und innen waren sie immer noch warm. Daran erinnere ich mich noch sehr stark."

Die Essenz des Lebens

Stefan Slupetzky ist sich bewusst, dass die Erinnerung an seinen Vater eine Schilderung voller Pathos ist. Es handelt sich für ihn jedoch um die Beschreibung von Gefühlen gegenüber einer anderen Person, und dies sei nichts anderes als die Essenz des Lebens:

"Ich halte das, was zwischen Menschen passiert, für nicht messbar, aber spürbar und fühlbar, ich glaube, dass wir eine extrem feine Sensorik für Mimik, Gestik, Geruch haben - und für ein Wort. Wir denken das gar nicht bewusst mit, das ist die Chemie zwischen den Menschen. Das ist großartig, das ist alles, was wir haben."