Umweltschutz braucht neue Formen

Am Ende der Gewissheiten

"No Impact Man" - so heißen ein Buch, ein Blog und ein Film, die ein ungewöhnliches Experiment beschreiben: ein Jahr lang in New York zu leben, ohne Abfall zu produzieren, außer Kompost, ohne etwas zu kaufen, außer Nahrungsmitteln, die vegetarisch sind und aus der Region stammen, und auch keine Papierprodukte zu benutzen, nicht einmal Toilettenpapier.

Colin Beavan war der No Impact Man, der mit Frau, Kind und Hund dieses "ökologisch korrekte Abenteuer", wie der deutsche Untertitel seines Buches lautet, vorgelebt hat: ein Leben, ohne Müll zu erzeugen, CO2-Emissionen und giftige Abwässer, ohne Plastik- und Verpackungsabfälle, ohne U-Bahn, Lift, Klimaanlage, Fernsehen. Irgendwann kappte Beavan sogar die Stromversorgung, um nur noch mit Kerzen aus Bienenwachs zu leben.

Graue Theorie und Masterplans

Das Vorhaben einer "No Impact"-Existenz, ohne schädliche Auswirkungen auf die Umwelt - das Projekt eines radikalen Ökofreaks oder das eines grünen Selbstdarstellers und Publicity-verliebten Sozialromantikers? Für den auf Umwelt- und Wissenschaftsgeschichte spezialisierten Historiker Frank Uekötter ist Colin Beavan jedenfalls ein schönes Beispiel für konsequent gelebtes Umweltbewusstsein - im Gegensatz zu grauer Öko-Theorie mit ihren drögen Verlautbarungen, Mahnungen und Masterplanen.

"Das Beavan-Experiment war eines für ein Jahr", so Frank Uekötter. "Aber der Mensch, der nach einem solchen Jahr zurückkommt, ist dann eben doch ein anderer. Ich glaube, das ist die Lehre, die wir aus dem Film ziehen können: Es gibt nicht den einen Idealzustand, den wir leben können, aber wir können unser eigenes Leben immer wieder überdenken und neu gestalten. Und wenn man das als Herausforderung für Kreativität und fürs Neuerfinden des eigenen ökologischen Lebensstils sieht, dann kann das verdammt viel Spaß machen."

"Bewusstsein schaffen - aber richtig" heißt das das Beispiel Colin Beavans zitierende Kapitel am Schluss von Frank Uekötters neuem Buch.

Historisch gewachsene Klischees

"Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert" lautet sein Titel. Uekötter liefert hier eine kritische Revision der deutschen Umweltbewegung und fordert neue Ansätze in der Öko-Diskussion.

"Es hat sich nach drei, vier Jahrzehnten Umweltdebatte eine Menge an Themen, an Klischees angesammelt, die historisch gewachsen, aber in anderen Zusammenhängen entstanden sind", meint Uekötter. "All das hat großartige Erfolge bewirkt. Aber ich glaube, wir kommen an einen Punkt, wo diese Dinge zweifelhaft werden, wo wir eher mit Wissen argumentieren müssen, wie wir Lebensstilfragen aufwerfen müssen, um in der Umweltpolitik weiterzukommen."

Die Umweltbewegung ist in der Krise. Uekötter konstatiert allgemeine Ratlosigkeit, Mangel an Elan und anachronistische Ideen und Einstellungen. Umweltverbänden fehlt Personal, Führungsriegen sind überaltert, die Basis erschlafft. "Es fehlen die spektakulären Erfolgserlebnisse", meint Uekötter, der von der "Sklerose der ökologischen Debatte" spricht. "Es geht nicht um die Existenz der Umweltbewegung", sagt er, "sondern darum, ob sie attraktiv ist, lebendig und erfolgreich."

Geschichte des Umweltschutzes

"Wir denken über Umweltprobleme immer mit Beschränkungen und Verzicht nach", sagt Uekötter. "Wenn man die Frage anders stellt, als Frage nach dem glücklichen Leben, kann man merken, dass viele Leute richtig begeistert sind über Naturerleben und Naturengagement. Ich könnte mir vorstellen, dass wir gerade einen Übergang zu einem neuen ökologischen Zeitalter erleben, das wir noch nicht verstehen, weil wir noch nicht die Kategorien haben."

Wie wurden Umweltschutz und Umweltbewegung in Deutschland zu dem, was sie heute sind - und was es nun zu reformieren gilt? Im ersten Teil seines gründlich recherchierten und sehr lesenswerten Buches rekapituliert der Autor historische Entwicklungen - von den sozialdemokratischen Naturfreunden und Hygienebewegungen des Kaiserreichs bis zur Umweltpolitik in der wiedervereinigten Bundesrepublik, vom Bund Heimatschutz bis zur Gründung der Grünen, von Hugo Conwentz und seiner "Naturdenkmalpflege" über Hans-Dietrich Genscher und seine Wortschöpfung "Umweltschutz" bis zu Merkels Wende in der Atompolitik und den "Wutbürger"-Aufständen gegen Großprojekte.

"Der grandiose Siegeszug der Umweltbewegung in den letzten drei, vier Jahrzehnten hat viel damit zu tun, dass diese Bewegung sich sehr eng mit dem Staat verbündet hat", so Uekötter. "Das ist für staatliche Organe auch eine großartige Chance, Ressourcen zu mobilisieren, neue Behörden zu gründen, neue Gesetze zu bekommen - all das hat eine Menge für die Umwelt bewirkt, ist aber langsam dabei, zu einer Belastung zu werden, weil wir immer mit solchen Bezügen auf Verbote, Steuern, Masterpläne denken. Bei der Klimadebatte, dass wir ernsthaft darüber reden, wie 2040, 2050 unsere Energieversorgung aussieht, obwohl niemand sagen kann, was unser Energiebedarf sein wird in dieser Zeit. Trotzdem machen wir Pläne - aus so einem staats-lastigen Umweltverständnis. Ich glaube, jetzt ist ein Moment, in dem die Zivilgesellschaft sich diese Dinge erobern kann."

Kultivierte Vorurteile

Wie sehr die Umweltbewegung, deren Erfolge nicht zu bestreiten sind, auch Klischees, Vorurteile, Starrsinn und Ängste kultivierte, das zeigt Uekötter anhand von Fallbeispielen im zweiten Teil des Buches. Beispiel Feinstaub: Obwohl Rußpartikel gefährlich und Filter für Autos nicht wirklich effizient sind, harrt das Thema einer konsequenten Beschäftigung.

Beispiel Gentechnik: Obwohl nicht alle Befürworter so arrogant auftreten wie das Unternehmen Monsanto und auch die konventionelle Intensivlandwirtschaft keine risikofreie ist, scheinen die Positionen verhärtet und sachliche Kontroversen unmöglich.

Beispiel Forstwirtschaft: Obwohl das prognostizierte Waldsterben ausgeblieben ist und die Waldinventur der 1980er Jahre in einem kritischen Licht erscheinen muss, galt eine Entwarnung als politisch nicht opportun.

"Dieses Bild des durch Säureregen sterbenden Waldes ist offenkundig widerlegt", sagt Uekötter. "Nicht nur das, es ist eine Bürde für alle, die über Probleme des Waldes reden, weil wir dieses Bild vor Augen haben: Bäume verlieren ihr Laub und sterben ab. Es gibt eine Menge Probleme, die der Wald hat, die ganz anders aussehen, wo eher das übermäßige Wachstum das Problem ist. Da merken wir, dass diese Horrorszenarien auch die ökologischen Belange blockieren und man Wege finden müsste, neu über den Wald zu reden."

Thesen zur Erneuerung der Umweltbewegung

Im dritten, dem letzten und kürzesten Teil seines trotz der manchmal "trockenen" Thematik sehr lebendig und anschaulich geschriebenen Buches formuliert Frank Uekötter zwölf knappe Thesen, die eine Erneuerung der Umweltbewegung betreffen. Unabhängig und vielfältig sollte diese sein, unbequem und dialogfähig, sozial engagiert und auf möglichst einfache Regelungen bedacht, so global wie nötig und so regional wie möglich.

Zugegeben, das klingt ziemlich allgemein und vage, aber Uekötter geht es um neue Formen, nicht um neue Inhalte der Debatte. Die Umweltbewegung brauche eine selbstkritische Reflexion. "Die Ära einfacher Weisheiten ist definitiv vorüber", schreibt der Autor. Er wünscht sich neue Kampagnen, neue Gesichter, einen neuen Ton: weg vom öden "expertokratischen" Jargon, hin zu einer einfachen, direkten, unmittelbar verständlichen Sprache.

Und nicht zuletzt braucht die Umweltbewegung - laut Uekötter - eine Art "Paradigmenwechsel": weg von einem Denken in langfristigen Zielen, hin zu einem in Prozessen und "Entwicklungspfaden".

"Jetzt, wo das Ende der Atomkraft definitiv ist, ist die Hoffnung auf erneuerbare Energien sehr stark", meint Uekötter. "Es gibt das zielorientierte Denken, wo man sagt, wir müssen im Jahr 2030, 2040 so und so viele Prozentzahlen haben, und dann gibt es die schönen Masterpläne dazu, die ja gerade in der Politik sehr populär sind. Man kann diese Debatte auch ganz anders aufziehen: als eine prozessorientierte Debatte, wo man sagt, wir wissen nicht, wie unser Energiesystem in 20, 30 Jahren aussieht. Aber wir haben ein paar Ideen, in welche Richtung sich die Dinge bewegen können, und wir schauen mal, wie Entwicklungen aussehen bei Bioenergie, bei Windenergie, bei anderen alternativen Energieformen, und schauen im konkreten Rahmen, im begrenzten Zeitraum nach, wie funktioniert das eigentlich. Und ziehen diese Energiewende als eine Art kollektiven Lernprozess auf, bei dem wir alle ein neues Energiesystem einlernen, ein Energiesystem, das nicht von fernen grauen Männern in den Energiekonzernen gemacht wird, sondern von uns allen."

Neue Diskussionen vonnöten

Fukushima hat gezeigt: umwelt- und energiepolitische Entscheidungen können kurzlebiger sein, als Parteiprogramme und Regierungserklärungen glauben machten. Das ist die Chance der Umweltbewegung: Stimmungen ausnützen, ökologisches Bewusstsein schärfen, neue Diskussionen entfachen - im Sinne von Klimaschutz, Artenvielfalt und Gesundheit. Doch wird sie dazu auch imstande sein?

"Ich halte es für durchaus möglich, dass wir in den nächsten Jahren neue Akteure sehen, die mit neuen Aktionsformen, mit wahrscheinlich internetbasierten Mitteln antreten und zur Konkurrenz sich entwickeln für den klassischen Mitgliederverband", so Uekötter. "Die große Herausforderung wird sein, diese Konkurrenz nicht wegbeißen zu wollen, sondern als eigenen Ansporn zu sehen und zu schauen, wie kann man eigentlich diese Umweltverbände mit ihren Mitgliedern, ihren Arbeitsstäben fit machen für das 21. Jahrhundert?"

"Wir sind ein ökologischer Alptraum", sagt Colin Beavan, Bewohner einer Stadt, die jährlich 100 Milliarden Kubikmeter Abwasser produziert, vier Millionen Tonnen Müll und viereinhalb Millionen Tonnen CO2 allein durch den New Yorker Stromverbrauch. Und er beschloss, den Alptraum zu beenden, keinen schädlichen Einfluss mehr auf die Umwelt zu nehmen oder den ökologischen Fußabdruck zumindest zu verkleinern. Dass das kein freudloses, asketisches, in Sektierertum mündendes Leben sein muss, beweisen sein Blog, sein Buch und auch der Film. Dass das ein origineller Versuch, aber keine Dauerlösung sein kann, auch das belegt der nicht zuletzt auch Frank Uekötter sehr sympathische "No Impact Man".

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Frank Uekötter, "Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert", Campus Verlag

Campus Verlag - Frank Uekötter