Ein Rundgang

"Das Fremde" bei der Istanbul-Biennale

Auf den ehemaligen Docks von Istanbul, dort wo heute nur mehr Kreuzfahrtschiffe vor Anker gehen, hat die zwölfte Biennale ihr Quartier: Zum ersten Mal sind alle Kunstwerke an einem Ort konzentriert - in zwei ehemaligen Lagerhallen, wo nüchterne Blechwände die einzelnen Räume voneinander trennen.

Die Hallen sind nach fünf Themen gegliedert, in die sich so gut wie alles hineinpacken lässt, was Menschen bewegt: Es geht ums Fremdsein, um Gewalt, um Geschichte und natürlich um Beziehungen in jeder Form.

Kulturjournal, 16.09.2011

Dramatisch und oft auch plakativ wirken die zahlreichen Beiträge aus Lateinamerika. Fast unerträglich das Video eines mexikanischen Künstlers, auf dem ein etwa zehnjähriger Bub in einem endlosen Ritual auf seine Hinrichtung vorbereitet wird. Das Gesicht des knieenden Buben ist verdeckt, die Hinrichtung ist allegorisch gemeint. Die Lebensumstände vieler mexikanischer Kinder lassen nicht zu, dass sie alt werden.

"Er wird darauf vorbereitet, dass sein baldiger Tod unausweichlich ist", erklärt Edvardo Aragon, "weil er wie viele Jugendliche von klein auf in die Drogenkriege verstrickt ist. Er wird also mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit früh sterben, wenn er da nicht rauskommt."

Der 25-jährige Edvardo Aragon erzählt hier die Geschichte seiner Familie. Gleich daneben ist das Gesicht eines Jugendlichen zu sehen, das Aragon ganz aus Schießpulver gestaltet ist. Es ist das Gesicht seines ermordeten Cousins, das völlig zerstört war, als man seine Leiche fand.

Im nächsten Raum eine andere Installation zum Thema Tod und Gewalt, aber ganz ohne Gesichter und Körper. Minutenlang schwenkt eine Kamera im Kreis über das leere Fußballstadion von Santiago de Chile, jenen Ort, wo nach dem Militärputsch 1973 30.000 Oppositionelle gefangen gehalten und gefoltert wurden.

Sichtbare und unsichtbare Grenzen

Viel Raum nimmt bei dieser Istanbuler Biennale auch "das Fremde" ein, die Ausgrenzung, die Allgegenwart sichtbarer und unsichtbarer Grenzen. Sichtbar, ja sogar fühlbar in einem kleinen Raum, in dem Rula Halawani in bunten Bildern das beengte Leben der Palästinenser mit Schwarz-Weiß-Bildern von israelischen Grenzmauern gegenüberstellt.

Etwas abstrakter eine Weltkarte, die wie ein Negativ zu unserer Vorstellung von Globalisierung wirkt. Die deutsche Kirsten Pieroth hat die Länder der Erde ausgeschnitten und in alphabetischer Reihenfolge auf weißen Hintergrund montiert. Die Phantasie einer bürokratisierten Welt.

Rassismus à la USA

Für viel Aufmerksamkeit sorgt der aus Los Angeles stammende Mark Bradford mit einer doppelten Kritik am latenten Rassismus der amerikanischen Kultur. Bradford geht von einem etwa zehn Meter breiten Plakat aus, auf dem die Polizei von Los Angeles Porträtfotos von Frauen dargestellt hatte. Es waren ausschließlich schwarze Frauen, die Opfer eines Serienkillers geworden waren, doch durch die Art, wie sie zur Schau gestellt wurden, eher wie Täterinnen oder Komplizinnen gewirkt haben.

Eine Folge auch der Hiphop-Kultur und ihrer Art, schwarze Frauen zu erniedrigen, meint Bradford: "In den letzten 20 Jahren gab es in der Hip-Hop-Musik sehr brutale Texte über schwarze Frauen. Aber wer ist mit diesen Huren und Schlampen gemeint? Ist das meine Mutter, meine Schwester? Oder wer sonst? Irgendjemand muss damit ja gemeint sein." Bradfords Vorwurf: Die Hip-Hopper würden - ohne es zu wollen - den Rassismus der Polizei fördern.

Nur leise Kritik von türkischen Künstlern

Vergleichsweise harmlos nehmen sich die türkischen Beiträge zur Istanbuler Biennale aus. Zwar überwiegen auch hier sozialkritische Themen, doch Kritik an der Regierung oder gar am Islamismus ist kaum zu finden. Die Werke der türkischen Künstler wirken verspielter, ihre Botschaften stärker verschlüsselt.

Etwas ratlos stehen ausländische Besucher eine Weile vor zwei Münzen, die sich fast gleichen wie ein Ei dem anderen: Ein 2-Euro-Stück und eine türkische Lira, die nur ein Viertel davon wert ist, unter einem Glassturz nebeneinander liegend. Der 30-jährige Ahmet Ögut aus dem südosttürkischen Diyarbakir will hier aber nicht die Nähe seines Landes zur EU darstellen, ihm geht es darum, wie viele seiner Landsleute diese Ähnlichkeit eine Zeit lang benützt haben, um auf europäischen Münz-Automaten billiger einzukaufen.

"Mir gefällt es zu sehen, wie ein offizielles Design, das von der Regierung kommt, von einfachen Menschen ganz anders genutzt wird als gedacht", so Ögut, "und wie die Regierung dann wieder reagiert und das Design der türkischen Münzen noch einmal verändert hat."

Dass die türkischen Werke auf der Istanbuler Biennale weniger scharf wirken als der Rest, das mag auch mit den Organisatoren der Schau zusammen hängen, vermuten einheimische Künstler. Die mächtige und einflussreiche Industriellenfamilie Koc, die als Sponsor der Biennale auftritt, hat offenbar wenig Interesse daran, die Regierung Erdogan zu reizen. Doch provokante, politisch brisante Werke von türkischen Künstlern sind in diesen Tagen durchaus in Istanbul zu sehen. Allerdings nicht unbedingt auf der Biennale, sondern den vielen kleineren Ausstellungen, die an diesem Wochenende parallel zum Großereignis eröffnet wurden.