Großauftritt des Marginalisierten

Das heißesten Viennale-Tipps

15 Jahre lang ist Hans Hurch nun schon Direktor des wichtigsten österreichischen Filmfestivals. Unter seiner Ägide hat sich die Viennale nicht nur zu einem nationalen Publikumsmagneten gemausert: Auch international gilt Hurchs Arbeit als beispielhaft und die Viennale als eines der besten, weil cinephilsten Filmfestivals der Welt.

Großes internationales Interesse

Hunderte Kritiker und Branchenmenschen reisen alljährlich nach Wien, weil sie hier noch die Möglichkeit haben, Neues zu sehen, sich überraschen zu lassen. Die diesjährige Ausgabe vertraut auf die erprobte Mischkulanz zwischen aktuellen Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilmen, kurz geschlossen mit einem umfassenden historischen Programm.

Während andere Festivals die Roten Teppiche für ihre Star-Gäste ausrollen, gibt sich die Viennale weitaus demokratischer: In Wien haben im Besonderen die an den Rand gedrängten, marginalisierten und unterfinanzierten Erzählformen des Mediums sowie deren Protagonisten ihren großen Auftritt.

Generationenporträt "Dragonslayer"

Ein fetter blauer Fleck strahlt in die Kameralinse. Nein, natürlich sieht das nicht aus. Aber Verletzungen wie diese gehören für Josh "Skreech" Sandoval zum Leben. Das Universum des 23-jährigen dreht sich um die Skateboard-Kultur: Mit seinen Kumpels funktioniert er bevorzugt ausgelassene Schwimmbecken hinter verlassenen Häusern zu Skateparks um. Es wird gegrindet, getrunken, gefeiert: immer alles für den Moment. "Dragonslayer" heißt das außergewöhnliche Dokumentarfilmprojekt, das "Skreechs" Alltag einfängt. Mit seiner Freundin und ihrem Baby lebt er in den Tag hinein. Denn die Zukunft macht vielen jungen Leuten in der kalifornischen Kleinstadt Fullerton Angst.

Regisseur Tristan Patterson gelingt mit "Dragonslayer" ein beeindruckend widersprüchliches Generationenporträt, das mühelos zwischen Erzählgangarten hin- und herschaltet.

Launiges Psychogramm "Hesher"

Die Jugendkultur anno 2011 drückt sich in mehreren Filmen der diesjährigen Viennale ab: so auch im launigen Psychogramm "Hesher". Hollywood-Star Joseph Gordon-Levitt gibt darin einen langhaarigen Headbanger als zeitgenössischen Peter Pan. Hesher weigert sich, erwachsen zu werden, vergräbt sich in seinem Universum aus Hasch und Heavy Metal. Bis ein kleiner Junge und eine Supermarktverkäuferin sein Leben durcheinander wirbeln.

"Hesher" ist der seltene Fall eines unabhängigen US-Films, der trotz seiner Starbesetzung nichts an Biss verliert. Jungregisseur Spencer Susser ist fasziniert von seiner Hauptfigur: Hesher ist Idol und Feindbild gleichermaßen, ein pyromanischer "Angel of Death" mit "Metallica"-Faible, der seiner Umwelt lehrt, das Leben so zu nehmen, wie es ist. Ungerecht und beschissen.

Erotische Fantasien in "Guilty of Romance"

Die Viennale ist immer auch eine Vermessung des Status Quo im zeitgenössischen Kino und eine Suche nach Autoren, die es schaffen, eine vollkommen gegenwärtige Filmsprache zu entwickeln. Der Meister dieser Klasse ist ohne Zweifel Sono Sion. Der japanische Gefühlsextremist schickt die Figuren in seinen Filmen durch alle sieben Höllenkreise und zurück. In seinem Sex & Gewalt-Marsch "Guilty of Romance" schneidet er die erotischen Fantasien von drei unterschiedlichen Frauen aneinander.

Love Hotels, eine Stadt im Regen, nackte Körper, verstümmelte Leichen. Sonos Arbeiten organisieren sich selten entlang konventioneller Erzählmuster. Plotpunkte keimen in seinem Kino im Minutentakt auf und sterben gleich wieder ab, während seine Inszenierung Umleitungen und Exkurse bevorzugt. Als Regisseur ist der Japaner ein Poet, seine Filme sind unbezähmbar, unverständlich und unendlich faszinierend.

Choreografierter "Drive"

Ein europäischer Gegenpol zu Sono Sion ist der Däne Nicolas Winding Refn: während dessen exzentrisch-bildgewaltigen Genrearbeiten wie "Bronson" und "Valhalla Rising" bereits seit längerem als Geheimtipps gelten, ist jetzt erstmals einer seiner Filme bei der Viennale zu sehen. In "Drive" schickt er Ryan Gosling durch ein irrlichterndes, unwirkliches Los Angeles.

Nicolas Winding Refn choreografiert seine Filme bis ins kleinste Detail: "Drive" ist ein Rausch aus Bewegungen und Farben, angeordnet um das Story-Gerüst eines "Lonesome Drivers" auf einem Rachefeldzug, zu gleichen Teilen primitiv und progressiv.

Von Trier, Moretti, Cronenberg

Die Viennale ist nicht nur Terrain für Entdeckungen, sondern zeigt auch die aktuellen Arbeiten von etablierten Größen des Weltkinos. Lars von Triers schmalzige Apokalypse "Melancholia", Nanni Morettis sanfte Papst-Satire "Habemus Papam" und David Cronenbergs Freudfilm "A Dangerous Method" sind für das Publikum auch Leuchtpfeiler in einem Meer der Möglichkeiten.

Gesprengte Genregrenzen

Wiewohl das Festival das Programm noch streng in Spiel- und Dokumentarfilme trennt, unternehmen nicht wenige Filme den Versuch, diese künstlich eingezogenen Grenzen zu sprengen - und setzen damit einen Trend fort, der bereits seit mehreren Jahren auszumachen ist: die graduelle Erosion der filmischen Wirklichkeit.

Herzogs "Höhle der vergessenen Träume"

An vorderster Front mit dabei ist Werner Herzog: Der bayerische Regisseur sucht das Kino bereits seit Jahrzehnten nach dem ab, was er ekstatische Wahrheit nennt und eine Wirklichkeit meint, die sich in Filmen herstellen lässt.

In "Höhle der vergessenen Träume" wandert er als erster Nicht-Forscher überhaupt tief hinein in die französische Chauvet-Höhle, an deren Wänden die frühesten jemals entdeckten Höhlenmalereien zu sehen sind.

Utopische Zukunftsvisionen in "Slow Burn"

Der junge Amerikaner Ben Rivers wandert ebenfalls auf herzogianischen Pfaden: in "Slow Burn" entwirft er utopische Zukunftsvisionen für vier abgeschiedene Inseln, vermengt dafür ethnografische, dokumentarische und fiktive Elemente. Ähnlich verfährt der Spanier José Maria de Orbe in seinem Werk "Aitá": angesiedelt in einem alten Haus, vermengen sich Töne, Räume und Geschichten zu einer alternativen Historie - ganz wie im Kino.

Retrospektiven

Historisches bietet die diesjährige Viennale auch an: neben einer Retrospektive zur französischen Regie-Meisterin Chantal Akerman inklusive der Österreich-Premiere ihres jüngsten Films wird auch Harry Belafonte in Wien erwartet. Dem Sänger, Schauspieler und Menschenrechtsaktivisten ist eine Schau mit seinen eindrucksvollsten Filmauftritten gewidmet.

Service

Ö1 Club-Mitglieder bekommen die Tickets für die Viennale ermäßigt (zehn Prozent).

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