Elias Canetti und Marie-Louise von Motesiczky

Liebhaber ohne Adresse

"Wenn sie mir etwas Gutes tun wollen, malen Sie bitte. Ich weiß, was für ein Maler Sie sind, ich habe es immer gewusst, seit vielen, vielen Jahren", schreibt am 24. Juni 1992 ein Schriftsteller aus Zürich an seine langjährige Freundin nach London - und grüßt Sie herzlich als "ein jetzt wirklich uralter Pio".

Pio, das ist der damals knapp 87-jährige Elias Canetti, der "liebe Maler Mulo", an den der Brief gerichtet ist, die ein Jahr jüngere Marie-Louise von Motesiczky. Ein halbes Jahrhundert lang haben sie sich geschrieben, zärtliche, besorgte, begeisterte, verständnislose, förmliche und verletzende Briefe, Dokumente einer schwierigen Beziehung.

Der Brief vom Juni 1992, zwei Jahre vor Canettis Tod, ist der Schlusspunkt einer Korrespondenz, die am 1. Juli 1941 mit einer völlig unpersönlichen Epistel begann, mit der sich der mittellose Emigrant mit der solventen Emigrantin, damals noch als "Sehr geehrtes Frl. von Motesicky!" (sic!) tituliert, über die Bedingungen eines Darlehens von 600 Pfund verständigte.

Beziehung über 50 Jahre

"Es gab diese mäzenatische Phase, es gab eine Phase der Liebesgeschichte mit Marie-Louise", so Kristian Wachinger, "und es gibt auf jeden Fall den Aspekt der Künstlerfreundschaft, der am Dauerhaftesten geblieben ist: Seine Ermutigung an Marie-Louise, sich doch vor die Staffelei zu setzen und zu arbeiten und sich weiterzuentwickeln, zieht sich durch diese ganzen Jahrzehnte."

Kristian Wachinger, Lektor im Carl Hanser Verlag, hat gemeinsam mit der Kunsthistorikerin und Motesiczky-Spezialistin Ines Schlenker den Nachlass der 1996 gestorbenen Malerin gesichtet und mit ihr jetzt unter dem Titel "Elias Canetti, Marie-Louise von Motesiczky, Liebhaber ohne Adresse" den umfangreichen Briefwechsel der beiden herausgegeben.

"Eine so lange Beziehung zu führen, wie immer diese Beziehung sich gewandelt hat, aber sie hat eben doch fünfzig Jahre gedauert und hat die verschiedensten Färbungen und Schattierungen angenommen und natürlich auch Höhen und Tiefen und Zerwürfnisse, das ist schon etwas Einmaliges", meint Wachinger. "Übrigens, eines der Zerwürfnisse hat ja dazu geführt, dass er ihr ihre Briefe zurückgegeben hat, und dem wiederum verdanken wir es, dass wir diese Briefe jetzt schon in Buchform lesen dürfen, denn andernfalls wären sie in den Verschluss einer 30-Jahres-Frist nach seinem Tod geraten, mit der er vergleichbare Papiere, Briefe, Tagebücher belegt hat."

Gewisse Wirkung auf Frauen

Marie-Louise von Motesiczky entstammte einer sehr wohlhabenden und musisch interessierten Familie der jüdischen Wiener Aristokratie. Die Großmutter, Anna von Lieben, war eine der ersten Patientinnen von Sigmund Freud, die Mutter flirtete mit Hugo von Hofmannsthal, der Vater musizierte mit Johannes Brahms.

Der Salon am Wiener Brahmsplatz und die Sommerfrische in der Hinterbrühl waren Treffpunkte der besseren Gesellschaft. Mit 13 Jahren verließ Marie-Luise das Wiener Mädchenlyzeum, um Privatunterricht bei einem Wiener Maler zu nehmen, später besuchte sie Kunstschulen in Den Haag, Frankfurt und Paris. 1920 lernte sie den Maler Max Beckmann kennen, der zum engen Freund und Lehrer wurde. Marie-Louise von Motesiczkys Malerei "stellt die bedeutendste Kunst der Beckmann- und Kokoschka-Nachfolge in Österreich dar", urteilt Beckmann-Biograf Stephan Reimertz.

Im März 1938, kurz nach dem "Anschluss" Österreichs an Nazi-Deutschland, floh Marie-Louise mit ihrer Mutter zunächst in die Niederlande, von dort dann weiter über London nach Amersham, wo sie bis zum Kriegsende lebte, bis sie ein Haus in Hampstead kaufte. Sie traf prominente Persönlichkeiten der österreichischen Emigranten-Szene, wie Ernst Gombrich, Karl Popper oder Erich Fried, vertiefte die Freundschaft zu Oskar Kokoschka und wurde Mäzenin und Geliebte eines kaum bekannten Autors, der ebenfalls aus Wien emigriert war: Elias Canetti.

"Er ist natürlich jemand gewesen, der im Leben als Jude in Österreich und dann Emigrant enorm viel an Demütigung einstecken musste", sagt Wachinger. "Fehlende Anerkennung, kein Geld, das sind sicher die beiden Hauptdemütigungen. Er hat auf Frauen offenbar eine ganz faszinierende Wirkung ausgeübt. Er hat sich da vielleicht auch ein Stück weit schadlos gehalten."

Desaster-Ehe mit Veza

Über Canettis Beziehung zu Frauen ist viel geschrieben und viel spekuliert worden. Als er 1934 Veza Taubner, die er zehn Jahre zuvor schon kennengelernt hatte, heiratete, war die Beziehung längst ein Desaster, geprägt von Depressionen, Selbstmordgedanken, Wahnvorstellungen und krankhafter Eifersucht. Canetti-Biograf Sven Hanuschek spricht von einem "Horrorkabinett von Abhängigkeiten zweier Liebender". Die beiden lebten teilweise in getrennten Wohnungen, hatten kein Sexualleben mehr, hielten es schwer mit, schon gar nicht aber ohne einander aus.

Elias Canetti, dem immer wieder ein "faunischer Charakter" und "Vielweiberei" nachgesagt wurden, flüchtete in Affären, und Veza war mit diesen außerehelichen Beziehungen einverstanden, förderte sie sogar, verlangte aber, eingeweiht zu werden. Die wohl intensivsten Beziehungen waren die zu Friedl Benedikt und Iris Murdoch. Und die zu Marie-Louise von Motesiczky, der er um 1940 in London begegnete und die er vielleicht mehr denn als Frau als Künstlerin verehrte und als "liebes Muli" und "lieber Maler Mulo" ansprach - in einem Briefwechsel, in dem die Anrede sonderbarerweise immer zwischen "Sie" und "Du" schwankte.

"Es ist total schräg, die ganze Geschichte mit dem Siezen und Duzen", meint Wachinger. "Also sie siezt ihn, er duzt sie. Ich glaube, es war schon von ihr eine große Verehrung, Ehrerbietung für den intellektuell Überlegenen, zumindest hielt sie sich immer für intellektuell unterlegen. Also sie duckt sich auch ein bisschen, sie macht sich klein. Und da gehört sicher dieses Siezen auch dazu."

Meister mit Geltungsdrang

Canetti und Motesiczky schrieben über ihre Arbeit und den Alltag, ihre Familien, Reisen und Begegnungen, über Bücher und Bilder, Krankheiten und Todesfälle, Hoffnungen und Pläne. Motesiczkys Briefe zeugen dabei von großer Bewunderung für den im Grunde kaum bekannten und völlig erfolglosen Autor, während in seinen Briefen, auch wenn darin von Fürsorge, Liebe und Zuneigung die Rede ist, immer wieder Hochmut und Größenwahn aufblitzen, Geltungsdrang und Selbstgerechtigkeit, blinde Eifersucht und schulmeisterliches Verhalten.

"Die schönste und beste Zeit zwischen uns war die, als Du wirklich und ernsthaft an meinem Werk beteiligt warst, denn da wusste ich, dass du mich liebst", schrieb Canetti im März 1958. "Du bist nie dazu 'gezwungen' worden, wie Du später einmal in einem Augenblick zerstörenden Schwachsinns gesagt hast. Gezwungen hat Dich Dein Gefühl für mich und vielleicht auch die Einsicht, dass Du es mit dem Lebenswerk eines der gewaltigsten Geister zu tun hast, die je gelebt haben. Das bin nämlich ich, falls Du es vergessen hast."

Und drei Jahre später, nachdem er von Marie-Louise erfahren hatte, dass Adorno Zweifel hegte an der Originalität seiner großen kulturphilosophischen Studie "Masse und Macht", wird aus der Enttäuschung über die Resonanz auf das Buch eine Ohrfeige für die Freundin. "Es ist schon traurig, dass Du, anderthalb Jahre nach Erscheinen meines Lebenswerkes nicht einmal übersehen kannst, was es enthält", echauffierte sich Canetti. "Ich frage mich, wie Du eine solche unglaubliche Nachlässigkeit vor Dir selbst rechtfertigst. Wieviel Zeit du gehabt! Mit wieviel Dummheit Dich auf das Innigste beschäftigt! (...) Ich glaube, - ausser den anderen schweren Dingen, die jahrelang zwischen uns standen und mein Leben vergiftet haben - und besonders nach ihnen, ist dies der böseste Schlag, den Du mir versetzt hast. Ich begreife ihn nicht, und ich schäme mich für Dich."

Neue Ehe verschwiegen

Nein, es ist kein weiches, sympathisches, verklärendes Licht, das hier auf einen großen Intellektuellen und Literatur-Nobelpreisträger fällt, der nicht nur verletzend, hochfahrend und beleidigend gegenüber Marie-Louise war, der Freundin und Förderin, sondern auch unehrlich und feige. Als er 1971 in Zürich Hera Buschor heiratete und ein Jahr später Vater wurde, verbarg er das vor jener Frau, die so sehr die seine sein wollte. Zwei Jahre später erst erfuhr sie durch Zufall davon.

"Mich hat natürlich am meisten schockiert die Unaufrichtigkeit, sie so sehr in dem Glauben zu belassen, sie sei seine Hauptfrau, wenn es nicht den Tatsachen entspricht", so Wachinger. "Sie hat sich immer ein Kind gewünscht. Tatsächlich, diese Zäsur ist einer der Dreh- und Angelpunkte dieser ganzen Geschichte - dass er nun die Familie gegründet hat, dass er es nicht über sich gebracht hat, sie davon in Kenntnis zu setzen."

Illusionen

Doch da hatte diese ungleiche Beziehung längst ihre besten Tage hinter sich. Schon 1963, nach dem Tode Vezas, musste Marie-Louise erkennen, dass Canetti ihr nicht die Rolle der Ehefrau oder Lebensgefährtin zudachte - und doch hörte sie nie auf, sich Illusionen zu machen und für das Scheitern dieser Illusionen sich und ihre Unwissenheit und nicht ihn und seinen Egoismus verantwortlich zu machen. Sie ertrug es, dass er ihr Vorschriften machte, ihr diktierte, wie sie über sein Werk zu sprechen habe, dass er seine Freunde von ihr fernhielt und ihr befahl, Briefe postlagernd zu schicken: Canetti, der "Liebhaber ohne Adresse".

"Das mit dem 'postlagernd' hat er ja so weit getrieben, dass er, als er in Zürich schon die Wohnung mit Frau und Kind hatte, also als die kleine Familie schon komplett war, sich noch die Post hauptpostlagernd nach Zürich hat schicken lassen", ergänzt Wachinger.

Ein "großer Maler"

So anmaßend, zurechtweisend, herablassend und respektlos Canetti gegenüber der Frau und Geliebten, dem "Muli", auch sein konnte, so respektvoll war er gegenüber der Künstlerin, dem "Maler Mulo". "Du bist ein sehr großer Maler und ob Du es willst oder nicht, die Welt wird es erfahren", schreibt Canetti überzeugt. "Jedes Bild, das Du noch malst, wird in die Geschichte der Malerei eingehen."

Was diese Bilder zeigten, auch davon vermittelt der von Kristian Wachinger und Ines Schlenker herausgegebene und sehr schön ausgestattete Band einen Eindruck. Er enthält neben zahlreichen Fotos rund ein Dutzend überwiegend farbig reproduzierter Zeichnungen und Gemälde Motesiczkys, spätexpressionistische Stillleben und Porträts, berührende Bildnisse der greisen Mutter, ein Selbstporträt mit Canetti aus den 60er Jahren oder, als Auftragswerk, ein Porträt Canettis von 1992, das dem Porträtierten freilich gar nicht gefiel, wie er in seinem letzten Brief an den "Lieben Maler Mulo" einräumte, einen Maler, den es auch heute erst noch zu entdecken gibt.

"Es gab in Wien eine Ausstellung, die auch in Frankfurt und Manchester zu sehen war", erzählt Wachinger. "Es gibt einen wunderbaren Catalogue raisonné, also einen vollständig kunsthistorisch analysierenden Katalog des Gesamtwerks, der vor zwei Jahren in England erschienen ist. Es gibt in England auch eine Biografie von Jill Lloyd, die leider noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist. Insgesamt sind es viele kleine Bausteine, und unser Briefband-Buch ist nur eine kleine Facette in der Bemühung, Marie-Louise von Motesiczky bekannt zu machen."

Dass Elias Canetti kein Heiliger war, wusste man spätestens seit Sven Hanuscheks großer Biografie und den unter dem Titel "Party im Blitz" herausgegebenen Aufzeichnungen über die Jahre in England. Und so ist dieser Briefband auch weniger ein Beitrag zur Entzauberung oder Selbstdemaskierung eines großen Schriftstellers, als vielmehr ein weiterer Mosaikstein zum Porträt eines widersprüchlichen, zur Selbstinszenierung neigenden Mannes, einer exzentrischen Persönlichkeit mit pathologischen Zügen. Und das Dokument einer ungewöhnlichen, oft unehrlichen, über weite Strecken ziemlich traurigen Liebesgeschichte.

Service

Elias Canetti, Marie-Louise von Motesiczky, "Liebhaber ohne Adresse. Briefwechsel 1942 - 1992", herausgegeben von Ines Schlenker und Kristian Wachinger, Carl Hanser Verlag