Wegen Genozid-Entscheids der Nationalversammlung
Türkei friert Beziehungen zu Paris ein
Als Reaktion auf den Beschluss der französischen Nationalversammlung, das Leugnen des von der Türkei bestrittenen Völkermordes an den Armeniern unter Strafe zu stellen, hat die türkische Regierung die Beziehungen zu Paris auf Eis gelegt. Der Botschafter wurde zurückberufen und die militärische Zusammenarbeit eingestellt.
8. April 2017, 21:58
Morgenjournal, 23.12.2011
Aus Istanbul,
Zwischen der Türkei und Frankreich herrscht Eiszeit. Dabei geht es diesmal nicht um den türkischen EU-Beitritt, den Frankreich ebenso wie Deutschland blockiert. In dem Konflikt geht es um ein Ereignis, das fast 100 Jahre zurück liegt: Die Deportation von hunderttausenden Armeniern durch die türkische Armee, bei dem der Großteil der Deportierten verhungert ist oder erschossen wurde. Weil Frankreich diese Tragödie als Völkermord einstuft und die Leugnung dieses Völkermordes künftig bestrafen will, hat die Regierung in Ankara nun wie angekündigt den türkischen Botschafter abberufen und Frankreich alle Zusammenarbeit aufgekündigt.
Türkei vor den Kopf gestoßen
Vieles hat sich in der Türkei in den letzten zehn Jahren verändert: Auch die Einstellung zu den Todesmärschen von 1915, bei denen Hunderttausende Armenier umgekommen sind. Zwar ist es nach türkischem Gesetz weiterhin strafbar, von einem Völkermord an den Armeniern zu sprechen. Doch dass den Armeniern am Ende des Osmanischen Reiches schweres Unrecht widerfahren ist, und dass diese Ereignisse aufgearbeitet werden sollen, wird in den letzten Jahren offen ausgesprochen.
Umso größer die Verärgerung in Ankara darüber, dass Frankreich nun den Spieß umgedreht hat und per Parlamentsbeschluss die türkische Version der Ereignisse strafbar macht. Die türkische Regierung und auch der Großteil der Opposition sehen hier eine groteske Umkehr der Rollen. Frankreich, das Mutterland der Aufklärung, erteile nun Rede- und Denkverbote: "Ich stelle die Frage, ob es in Frankreich Gedanken- und Meinungsfreiheit gibt", sagte Ministerpräsident Erdogan in seiner ersten Reaktion auf das Pariser Votum. "Und ich gebe auch gleich die Antwort: Es gibt sie nicht".
Anderes Geschichtsbild
Bis heute lernen türkische Schulkinder, dass die osmanische Armee vor bald hundert Jahren aus Notwehr gehandelt habe, als sie die armenische Bevölkerung Anatoliens in die syrische Wüste deportierte. Armenische Partisanen hätten die Schwäche des Osmanischen Reiches ausgenützt und sich den heranrückenden Truppen Russlands angeschlossen.
Armenien lehnt Historiker-Kommission ab
Türkische Quellen sprechen von Zehntausenden türkischen Zivilisten, die von armenischen Kämpfern getötet worden seien, und setzen die Zahl der armenischen Todesopfer auf 300.000 herunter, auf weniger als ein Drittel von dem, was die meisten europäischen und amerikanischen Historiker schätzen.
Weil die Zahlenangaben so weit auseinander gehen und die Ereignisse von 1915 schlecht dokumentiert sind, schlägt die türkische Regierung seit Jahren vor, eine internationale Historiker-Kommission einzusetzen. Das hat die Republik Armenien bisher abgelehnt.
Besonders wichtig aus türkischer Sicht; Dass es sich nicht um Rassismus gehandelt habe, und auch nicht um die systematische Vernichtung von Menschen im Sinne der Nazis.
Frage des Selbstverständnisses
Auch wenn das Osmanische Reich schon lange untergegangen ist und die Türkische Republik erst nach den Armenien-Massakern gegründet wurde -.
für das Selbstverständnis der heutigen Türken ist es wichtig, dass ihre historischen Vorgänger, die Osmanen, zwar konservativ, aber ausgesprochen tolerant waren, und andere Völker und Religionen in ihrem Machtbereich respektiert haben. Mit diesem Gesamtbild stimmen übrigens die meisten nicht-türkischen Historiker überein.
Fakten zur Kenntnis zu nehmen, die nicht zum positiven Selbstbild passen – das fällt übrigens auch anderen Nationen schwer. Deutschland und Österreich wurden dazu von den Befreiern gezwungen, die gleichzeitig beim Wiederaufbau halfen. Die Türkei ist da in einer anderen Lage. Von einem Land wie Frankreich, das den türkischen Europa-Ambitionen ständig im Weg steht, will man sich keinen Geschichts-Unterricht geben lassen.