Vom Kulturskandal zum Klassiker

Der Herr Karl

Ein Mann wurschtelt sich zeitlebens durch, übersteht die Katastrophen seiner Zeit unbeschadet, einfach weil er es sich immer "richtet", immer mit den Wölfen heult, auf Veränderungen mit Anpassung reagiert.

Empörung bei der Erstausstrahlung

Der Keller einer Delikatessenhandlung: Kisten, Konserven, Flaschen, eine enge Wendeltreppe. Ein Mann schickt sich an, eine Kiste aufzuheben, doch bevor er körperlich tätig wird, hält er inne und beginnt über sein Leben zu räsonieren. Seine Geschichte erzählt er einem Jüngeren, der für den Zuschauer unsichtbar bleibt, somit spricht der Lagerarbeiter Karl zur Kamera und zum Publikum wie zu einer anwesenden Person.

Am 15. November 1961 wurde der etwa einstündige Monolog des Herrn Karl erstmals im ORF gezeigt. Thomas Ross von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Schon während der Sendung ein Gewittersturm empörter Anrufe. 'Nestbeschmutzer, Pfui Teufel!'. Körbeweise Zuschriften ans Fernsehen, an die beiden Autoren, die überdies von anonymen Anrufern wüst beschimpft, ja sogar mit dem Tod bedroht wurden."

Ein Schlag ins Gesicht

Der Herr Karl war ein heftiger Schlag mitten in das selbstzufriedene Antlitz des Landes. Groß war deshalb die öffentliche Erregung, als dieser "Störfaktor" in Gestalt des Herrn Karl in die mit TV ausgestatteten Wohnzimmer der Österreicher und Österreicherinnen trat, diesen behaglichen Opportunisten ausstellte, der all die Plattitüden und Ausreden gebrauchte, die der Homo austriacus im Nachkriegsösterreich der Zweiten Republik selbst so gerne verwendete, jene Ausreden, die nachgerade das eigentliche Fundament der nationalen Identität bildeten.

"Der Wunsch nach Tilgung der Erinnerung ans Geschehene einte österreichische Täter, Mitläufer und Pflichterfüller mit ihren Staatsmännern. Opferstatus, Unschuld und Selbstmitleid waren unverzichtbare Bestandteile einer Mentalität des Vergessens und Selbstvergebens am Beginn der Zweiten Republik", schrieben Hans Witek und Hans Safrian in ihrer Dokumentation "Und keiner war dabei".

Demaskierung des Homo austriacus

"Herr Karl" über den Einmarsch der Hitlertruppen in Österreich: "Also mir san alle ... i waaß noch ... am Ring und am Heldenplatz g'standen ... unübersehbar warn mir ... man hat gefühlt, ma is' unter sich ... es war wie beim Heirigen ... es war wie a riesiger Heiriger! Aber feierlich."

Dies derart direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen, stieß vielen sauer auf, wie die Rezeptionsgeschichte belegt. Den Autoren Carl Merz und Helmut Qualtinger war es gelungen, die Winkelzüge des österreichischen Bewusstseins zu demaskieren.

Aus dem negativen Kerl ist eine weithin bekannte, gut "integrierte" Kulturgröße geworden. Heute sind die "Sager" des Herrn Karl Teil der Folklore, werden ausländischen Freunden vorgeführt, geradezu liebevoll tradiert. Von Empörung ist nichts mehr zu spüren. Aus dem Kulturskandal wurde ein Dauerbrenner, ein Klassiker. Das erinnert an die Publikumsreaktionen auf Thomas Bernhards Österreich-Scheltreden beispielsweise in dem Stück "Heldenplatz".

Ein Herr Karl geht nicht unter

Dem Darsteller des Herrn Karl verlangt der Monolog einiges ab: Einerseits gilt es, diesem Unsympathler einnehmende Züge zu verleihen, um die Spannung auf dessen Lebens-Durchwursteleien aufrecht zu halten; andererseits soll es gelingen, diese kunstvolle Charakter- und Sprechmaske so mit Leben auszufüllen, dass die Figur des "Herrn Karl" zum Nachdenken über Österreichs Geschichte anregt. Helmut Qualtinger, als erster Darsteller des "Herrn Karl" und lange Zeit als sein einzig möglicher bezeichnet, hat dies bravourös vorgezeigt. Als dicker Kerl mit teigigem Gesicht, Doppelkinn, traurigen Augen, Hut und Hitler-Schnauzer prägte er nachhaltig das Bild des österreichischen Opportunisten.

Die Widersprüchlichkeit des kleinbürgerlichen Bewusstseins lässt sich wie durch ein Brennglas an der Person des "Herrn Karl" studieren: Er ist ein devoter Aufbegehrer, aggressiv und wehleidig zugleich. Er ist jederzeit bereit, sich zu ducken, und schafft es dabei, anderen im Weg zu stehen und sie zu behindern. Er gehört zu jenen, die das Wichtige immer verschweigen, um es gleichzeitig in aller Beredtheit zu zelebrieren.

Der Opportunismus des "Herrn Karl" wird von der Sicherheit gespeist, ungestraft davonzukommen. Grundlage dieser Sicherheit ist eine verinnerlichte geschichtliche Erfahrung – wollen wir sie die "austriakische" Tradition der wechselnden Anpassung nennen. Sie bildet den Nährboden aller Opportunisten und sorgt dafür, dass der "Herr Karl" einfach nicht untergehen kann.

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Wikipedia - Der Herr Karl