Drei Bücher in einem von Péter Nádas

Parallelgeschichten

1.728 Seiten, 39 Kapitel, drei Bücher, eine Vielzahl von Figuren, Orten und Zeiten, Budapest und Berlin in den Jahren 1956, 1960 und 1989 vor allem, dazu die ungarische und die deutsche Provinz bis in den Ersten Weltkrieg zurück.

Péter Nádas' Opus magnum "Parallelgeschichten" ist ein gewaltiges Massiv, ein verschwenderisch breites und tiefes Dickicht aus Lebensgeschichten im 20. Jahrhundert. Es nimmt durch seine innere Spannung gefangen, scheint sämtliche Romangenres in sich aufgesogen zu haben, und man wird das Buch mehrmals lesen müssen, um vieles erstmals zu erfassen - obwohl sich schon beim ersten Mal die meisten Szenen unvergesslich einbrennen, was im Deutschen auch der virtuosen Übersetzerin Christina Viragh zu verdanken ist.

Jubelnde Begeisterung will sich dennoch nicht einstellen. Eher scheint eine respektvolle, aus Bewunderung und Abwehr, Staunen und Schrecken gemischte Haltung angemessen. Péter Nádas, Jahrgang 1942, ist nämlich etwas gelungen, was keinem Roman mehr zuzutrauen war: Er fragt in einer eigens erfundenen, mühelos lesbaren Form, was der Mensch sei, und scheint dabei das Schicksal des Lesers zu verhandeln. Für Europäer über 40 könnten die "Parallelgeschichten" ein Lebensbuch werden.

Verknüpfte Schicksale

"Stumme Gefilde" heißt das erste der drei Bücher. Der Student Carl Maria Döhring findet 1989 im Berliner Tiergarten einen Toten, und Anfang der 60er Jahre sehnt sich in Budapest der ebenso junge Kristóf aus der Wohnung seiner wohlsituierten Verwandten, der Familie Lippay-Lehr, in die Arme einer Frau.

In die Erschütterung des einsamen Deutschen und das Begehren des Ungarn schieben sich Geschichten, die sie unbewusst beunruhigen: Döhrings Großvater, Leiter eines Konzentrationslagers, raubte Gold der ermordeten Häftlinge, und Kristófs Onkel István Lippay organisierte die Deportation der ungarischen Juden 1944 mit. Dazu kommt die Depression der ganzen Gesellschaft nach dem niedergeschlagenen Aufstand 1956 und ihre Anpassung an das Regime. Nádas schildert nicht die historischen Ereignisse, sondern die Verheerungen, die sie in den Menschen bewirken.

Zusammentreffen im Endlichen

Im zweiten Buch "In den Tiefen der Nacht" erfährt Kristóf nachts im Park der Margareteninsel sein homosexuelles Coming Out; am anderen Ufer der Donau, zeitlich und räumlich parallel, spielen vier Damen, darunter Überlebende des Holocaust, Bridge, während in der Wohnung einer der Damen deren Untermieterin Gyöngyvér Mozés vier Tage lang mit Agóst Lippay, dem Cousin Kristófs, schläft, was beiden schön, aber umsonst erscheint, weil die Liebe fehlt.

Sie allein schenkt den "Atem der Freiheit", nach dem das dritte Buch benannt ist. In ihm verliebt sich der bisexuelle Kristóf glücklich in Klára, und so kreuzen sich dank der körperlichen und geistigen Grenzüberschreitung beider dieses eine Mal die Parallelen im Endlichen.

Sehnsucht nach Liebe

Die anderen Figuren des Buches, auch hierin sind ihre Lebensgeschichten Parallelgeschichten, sehnen sich glücklos nach der Liebe. Baron László Bellardi übermannt die Erinnerung an die schöne Elisa, die ihn wegen Mária Szápary verließ, einer der Jahrzehnte später Bridge spielenden Damen, und ebenso durchzucken Bellardi Erinnerungen an den innig geliebten Jugendfreund Alajos Madzar, einen Architekten, der seinerseits bedauert, den rechten Augenblick sowohl mit Bellardi wie mit der begehrten Psychoanalytikerin Irma Szemzö versäumt zu haben, einer weiteren Freundin von Mária Szápary, der Geliebten von Bellardis früherer Frau Elisa.

Auch Erna Lippay kommt nicht los von einer Holländerin, für die sie beinahe ihren Mann verlassen hätte. So treten zu den Lebenden, allesamt Einsame, mindestens ebenso viele Abwesende, Verlorene, Tote, und das Buch verzweigt sich mit ihnen wie ein Rhizom in das chaotische 20. Jahrhundert.

Erwachende Gefühle und Gedanken

Anders als in dem "Buch der Erinnerung" von 1995 mit seinen drei ineinander verschränkten Biografien kümmert sich Nádas diesmal wenig um Kausalität und Chronologie. Sein Erzähler ist nicht allwissend, er greift nicht vor in der Zeit. Der Ariadnefaden zieht vielmehr beständig ins Dunkle.

Erstaunlicherweise verliert der Leser nicht die Orientierung. Denn wie Bellardi, Elisa, Maria Szápary und Irma Szemzö sind die meisten Figuren über ein paar Ecken miteinander verbunden, und sie haben eindrucksvolle Auftritte, wenn sie sich in den vermissten Anderen zu erkennen versuchen und dabei offenbaren.

Nádas collagiert mühelos, mit nicht nachlassender Intensität und philosophischem Feingefühl Situationen, in denen Gefühle und Gedanken, lange wie in einem Futteral verwahrt, plötzlich erwachen und die dunkle Gegenwart mit aller Macht und Herrlichkeit aufleuchten lassen. So erhellen sich – oft Absatz für Absatz – äußere und innere, physische und psychische Prozesse gegenseitig. Es sind mystische Vorgänge, höchst anschaulich erzählt.

Der Körper als Gefäß für Erfahrungen

Während des viertägigen, 70 Seiten langen Beischlafes von Gyöngyvér und Agóst oder des kaum kürzer bedachten Coming Outs von Kristóf überkommen den Leser mitunter beinahe körperliche Schmerzen. Doch im Nachhinein erweisen sich auch diese von Abschweifungen aller Art durchschossenen Szenen präzis, kühl und nicht pornografischer erzählt als notwendig.

Der Körper ist für Nádas ein Gefäß hoch nuancierter Erfahrungen, die das Ich überschreiten, der Ort von Erinnerungen und Sehnsüchten, die den Ideologien widersprechen, vor allem dem erschreckend alltäglichen Antisemitismus der Ungarn. "Lust muss ein Beiname Gottes sein", fährt es Kristóf vor der Schwulentoilette durch den Kopf. Die Einheit von Niedrigstem und Höchstem zerstört das begrenzte gesellschaftliche Ich, sie setzt die Libido frei und schafft den ganzen Menschen. Kristóf ist daher der Einzige im Roman, der auf seine Geschichte als Ich-Erzähler blicken kann, und er ist fähig zu einer Liebe mit Klára, die auf unspektakuläre Weise die Konventionen hinter sich lässt.

Alle anderen Figuren des Romans überwinden nicht, was ihnen unter den ungarischen Kommunisten oder den ungarischen und deutschen Faschisten als rettende Zuflucht erscheint und zugleich ihr Unglück besiegelt: das Doppelleben zwischen heuchlerischer Anpassung und wahren Gefühlen, die Trennung von Freund und Feind durch politische und Rassenideologien, die Unterscheidung von Männern und Frauen, Deutschen und Ungarn sowie Juden und Zigeunern. Nie ist die Unterwerfung des Körpers und der Seele durch die Gewalt des 20. Jahrhunderts so subtil, so überzeugend und so zartfühlend dargestellt worden, nie, wie sie das Leben noch der Nachgeborenen verheert. Péter Nádas nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Nacht des 20. Jahrhunderts - und aus ihr heraus.

Service

Péter Nádas, "Parallelgeschichten", aus dem Ungarischen übersetzt von Christina Viragh, Rowohlt Verlag

Rowohlt - Parallelgeschichten