Siddharta Mukherjee über Krebs

Der König aller Krankheiten

Jedes Buch, auch wenn es so umfangreich ist wie "Der König aller Krankheiten", beginnt mit ein paar, in aller Eile hingekritzelten Notizen. Seit 2004 führte der damals angehende Onkologe Siddharta Mukherjee ein Tagebuch über seinen klinischen Alltag.

"Es war ein kleines, schwarzes Notizbuch, in das ich jeden Tag Beobachtungen eingetragen habe. Also etwa, was mit meinen Patienten passierte, aber auch zunehmend, was in mir vorging", erinnert sich Sid Mukherjee. "Warum machte ich bestimmte Dinge so und nicht anders? Wie reagierte ich?"

Das Tagebuch war anfangs ein Mittel, den oft deprimierenden Alltag eines Krebsspezialisten zu überstehen. Doch schon bald stellte sich dem geborenen Inder eine ganzer Katalog von Fragen, die weit über seine Befindlichkeit sowie jene seiner Patienten hinausging. Es ging für ihn um das Ereignis Krebs.

Familie ist mitbetroffen

"Man erlebt mit, wie ein Menschenleben fundamental verändert wird", sagt Mukherjee. "Eine Krankheit bzw. eine ganze Gruppe von Krankheiten usurpiert das Leben eines Menschen, aber auch das seiner Eltern, seiner Kinder, seiner Geschwister. Statistisch betrachtet ist jeder irgendwie von Krebs betroffen. Man macht sich also auf die Suche nach der Geschichte dieses Ereignisses, aber es gibt keine. Es herrscht ein Vakuum. Das empfand ich jedes Mal, wenn ich in meinem Tagebuch blätterte. Und ich fragte mich: Warum gibt es von etwas so Einschneidendem wie Krebs keine Geschichte?"

Sid Mukherjees Biografie einer Krankheit mit vielen Gesichtern spannt den Bogen von 2625 vor Christus, als der ägyptische Arzt Imhotep Brustkrebs beschrieb, bis zu den modernsten personalisierten Therapien von Krebsarten, die auf genetische Varianten zurückzuführen sind. Er erzählt von Ärzten und Pathologen, die nächtens Stunden über dem Mikroskop gebeugt Gewebsproben analysierten und vom Einsatz leidenschaftlicher Lobbyisten, ohne die es beispielsweise in den USA kein staatliches Krebsforschungsinstitut gäbe. Und der Autor erzählt von den Alten Griechen, auf die der Begriff "Krebs" zurückgeht.

"Die Griechen prägten den Begriff 'Karkinos', denn Hypokrates stellte sich Krebs wie eine unter der Haut vergrabene Krabbe vor. Die Blutgefäße um den Tumor waren die im Sand vergrabenen Beine der Krabbe. Das ist also ein sehr lebhaftes Bild, das zum Begriff 'Krebs' geführt hat. Doch Beschreibungen von Krebserkrankungen gab es schon Jahrhunderte zuvor."

Rund 1000 Jahre altes Krebsgeschwür

Das älteste Krebsgeschwür entdeckten Archäologen in Peru, am Rande der Atacama-Wüste, in Mumien der Chiribaya. Das Knochengeschwür ist rund 1000 Jahre alt und hat zumindest theoretisch auch für die heutige Krebsforschung Bedeutung.

"Angenommen ich könnte mit Bestimmtheit behaupten, dass die Häufigkeit von Knochenkrebs im zweiten Jahrhundert vor Christus und 2012 die gleiche ist", meint Mukherjee. "Dann führt das zu der Überlegung, dass Umweltfaktoren aller Wahrscheinlichkeit nach keine Rolle spielen. Das heißt, wir sollten uns andere ursächliche Zusammenhänge überlegen."

Ursache im 19. Jarhhundert geklärt

Jahrhunderte lang wurden Krebserkrankungen auf der Basis der sogenannten Humorallehre erklärt. Der griechische Arzt Galen machte überschüssige, sich im Körper ausbreitende schwarze Galle dafür verantwortlich. Diese Sichtweise hielt sich bis ins 17. Jahrhundert.

Es dauerte nochmals 200 Jahre, bis es dem deutschen Arzt und Pathologen Rudolf Virchow gelang, die allen Krebsformen zugrundeliegende Ursache zu klären, nämlich: Hyperplasie, also gestörtes, wucherndes Zellwachstum. Das erklärt die Tumorbildung. Doch in einer gewissen bildhaften Weise sollte Galen doch das letzte Wort haben. Sid Mukherjee schreibt:

Therapien nur vorübergehend wirksam

Wenn wucherndes Zellwachstum die Ursache der Erkrankung ist, dann - so die Überlegung von Forschern - müsste man die Zellen daran hindern, sich ungehemmt zu vermehren. Diese Überlegungen waren die Grundlage der Chemotherapie. Eine ihrer Wurzeln: die Textilbranche.

"Dass man Farbstoffe im Labor erfinden kann, hat die chemische Industrie des 19.Jahrhunderts belebt. Das war zu einer Zeit, als der weltweite Handel mit Seide und Baumwolle blühte", sagt Mukherjee. "Die Frage war also: Wie färbt man die Stoffe? Traditionell hatte man dazu Pflanzenfarbstoffe verwendet. Doch dann erfanden Chemiker künstliche Farbstoffe. In Europa herrschte zwischen den Färbereien damals sehr harte Konkurrenz. Die Chemiker hatten mit den Farbstoffen eine neue, synthetische Chemie geschaffen."

Auch zweifelhafte Errungenschaften der Rüstungsindustrie bildeten die Basis für die ersten Chemotherapien. In einem Labor an der Yale University entwickelten Forscher einen Stoff aus Senfgas und injizierten ihn erfolgreich in einen 48 Jahre alten Patienten mit Leukämie. Doch ob operative, radiologische oder chemotherapeutische Behandlung: Die Therapie war oft nur vorübergehend wirksam. Das ist auch heute noch der Fall.

"In vielen, wenn auch nicht in allen Fällen werden die Krebszellen gegen die Therapie resistent", so Mukherjee. "Dafür gibt es verschiedene Mechanismen. Einer spielt sich so ab: Es gibt Eiweiße im Körper, deren Aufgabe es ist, Giftstoffe aus den Zellen herauszupumpen. Das ist evolutionsgeschichtlich sinnvoll, weil unser Körper mit vielen Umweltgiften in Berührung kommt. Wird das Gift nicht entfernt, würde die Zelle sterben. Krebszellen machen sich nun diesen Mechanismus zunutze. Sie verwenden diese Eiweiße, um die Chemotherapie hinauszupumpen. Das ist nur einer von Dutzenden solchen Mechanismen."

Präventivmaßnahmen

Der Slogan "Krieg gegen Krebs" wird dem US-Präsidenten Richard Nixon zugeschrieben. Doch der martialische Ansatz ist viel älter, meint Sid Mukherjee. Als Beispiel führt er Plakate aus den 1930er Jahren an: "Es gibt eine berühmte Serie von Postern mit Männern in weißen Kitteln, bewaffnet mit Schwertern. Wissenschaftler kämpfen also gegen ein krabbenähnliches Wesen. Auf einigen Postern schlagen sie der Krabbe den Kopf ab, auf anderen durchbohren sie deren Körper mit ihren Schwertern. Das Bild von Kampf gegen Krebs als Schlacht ist also sehr alt."

Vieles hat sich seit den 1970er Jahren verändert. Seither weiß man beispielsweise über die vielfältigen Krebsursachen Bescheid und kann somit präventiv eingreifen. Beispielsweise wurde Asbest als Baustoff verboten. Oder: Bakterien wie Helicobacter pylori, die das Risiko für Magenkarzinome erhöhen, lassen sich mit Antibiotika ausrotten.

Sid Mukherjee ist nicht so optimistisch, dass er an eine Zukunft glaubt, in der jede Krebsform heilbar sein wird. Doch das neue Verständnis der Rolle von Genen eröffnet innovative Möglichkeiten: "Wir haben eine jahrzehntelange, großartige Forschungsära über die Verschiedenartigkeit von Krebs hinter uns. Nun bricht eine neue Zeit an. Es ist eine Ära der Einheit. Nachdem wir die genetischen, biologischen und klinischen Unterschiede verschiedener Krebsformen studiert haben, versuchen wir nun herauszufinden, was sie gemeinsam haben. Und aus der Gemeinsamkeit ergeben sich andere Therapien."

"Angenommen, es gibt eine Art von Brustkrebs, die genetisch mit einer Art von Magenkrebs verwandt ist, dann kann man beide ähnlich behandeln", fährt Mukherjee fort. "Der traditionelle anatomische Ansatz wird sich also verändern. Die Anatomie wird weniger Rolle spielen, wie man Krebs behandelt. Wichtiger werden beispielsweise die Signale zwischen den Zellen und was es sonst noch an Gemeinsamkeiten gibt."

Service

Siddharta Mukherjee, "Der König aller Krankheiten. Krebs - eine Biografie", aus dem Englischen übersetzt von Barbara Schaden, DuMont Buchverlag

DuMont - Der König aller Krankheiten