Reportage von Wojciech Jagielski
Wanderer der Nacht
Innerhalb einer Woche wurde es 100 Millionen Mal aufgerufen, das Internet-Video "Kony 2012" der Hilfsorganisation Invisible Children. In diesem Video wird Joseph Kony beschuldigt, 30.000 Kindersoldaten in Uganda angeworben zu haben für die Lord's Resistance Army.
8. April 2017, 21:58
Weltweiter Aktionstag
Auch wenn es Kritik am Video gab, in dem zu einem militärischen Einschreiten gegen Kony aufgefordert wird, hat es den Zweck, Aufmerksamkeit auf einen vergessenen und verdrängten Konflikt zu lenken, erfüllt. Mittlerweile haben die Macher ein zweites, ausgewogeneres Video hochgeladen, in dem der historische Kontext nicht zu kurz kommt. Und für Freitag, den 20. April 2012, haben sie aufgerufen, weltweit das Logo ihrer Kampagne zu plakatieren.
Wer sich tiefergehender mit der Problematik von Kindersoldaten in Uganda beschäftigen möchte, der wird an der großen Reportage des polnischen Journalisten Wojciech Jagielski mit dem Titel "Wanderer der Nacht" nicht vorbei kommen.
Erlebnisse eines Kindersoldaten
"Ich wurde im Jahr 2003 entführt, an einem Samstag um 15:00 Uhr nachmittags", erzählt ein ehemaliger Kindersoldat. "Ich kam mit meinen Geschwistern gerade von der Feldarbeit zurück, als sie plötzlich vor mir standen und mich mitnahmen. Sie schlugen mich dauernd mit dem Gewehr. Ich musste dann als Träger von Beutematerial dienen, Menschen töten, Dörfer überfallen. Ich selbst wurde mehrmals angeschossen und zuletzt an der Pobacke verwundet."
Der damals 13-jährige Onenchang Stephen Derry aus Pajule befand sich ein Jahr und sechs Monate in der Gewalt der Lord's Resistance Army. "Es war die Hölle für mich. Wir marschierten stundenlang, hatten kaum etwas zu essen. Die Regierungssoldaten verfolgten uns, die Helikopter warfen Bomben und Granaten auf uns. Außerdem gab es die Propaganda. Die Rebellen erzählten uns, dass sie alle geflüchteten Kindersoldaten aufgespürt und grausam ungebracht hätten. Aber es gab auch den Radiosender der Regierung, der uns Straffreiheit garantierte. So entschloss ich mich zur Flucht."
Flucht nach Gulu - jede Nacht
So wie Onenchang Stephen Derry stellt sich auch Samuel, der Protagonist in Wojciech Jagielskis Buch, nach seiner Flucht den Regierungssoldaten. Nach einer Bombenexplosion bleibt der 14-Jährige stundenlang schwer verletzt im hohen Gras liegen, bis die Soldaten ihn schließlich finden und er sich ergibt. Er wird verhört und verbringt dann Monate in einem Rehabilitionscenter für ehemalige Kindersoldaten in Gulu.
Gulu ist jene nordugandische Stadt, die sich bis zum Friedensvertrag im Jahr 2006 jede Nacht mit Hunderten Kindern füllte, die von den umliegenden Dörfer in die bewachten Gassen und Auffanglager strömten, um vor den Rebellen der Lord's Resistance Army Schutz zu suchen. Der Autor nennt die für viele Stadtbewohner damals sehr unheimlich anmutenden Wesen titelgebend für seine Reportage "Wanderer der Nacht."
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Später kamen die Kinder. Sie erschienen ohne Ankündigung, nahezu unbemerkt. Wie Geister nahmen sie plötzlich Gestalt an, tauchten unvermutet aus der Dunkelheit auf, als hätte der Erdboden sich aufgetan und sie freigegeben.
Erschütterndes Geständnis
Diese Wanderer der Nacht sind es, die den Autor bei seinem ersten Besuch in Gulu auf das Phänomen "Kindersoldaten" aufmerksam machen. Jagielski, der eigentlich über die bevorsteheneden Präsidentenwahlen schreiben wollte, taucht immer tiefer in die Geschichte des ehemaligen Kindersoldaten Samuel ein, verlängert ein ums andere Mal seinen Aufenthalt im Land der Acholi und besucht den zu Beginn eher zurückhaltenden Buben fast täglich. Es sollten schließlich noch viele gesprächsintensive Tage vergehen, bis Samuel dem Autor gestehen konnte, viele Menschen getötet zu haben.
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Ich hatte ein solches Geständnis erwartet, war im Grunde nur hergekommen, um es zu hören. Und dennoch – nun, da es kam, fühlte ich mich vollkommen hilflos.
Die Erzählungen über die schrecklichen Erlebnisse der Buben und Mädchen im ugandischen Busch wurden von den Betreuerinnen des Therapiezentrums in Gulu penibel aufgezeichnet. Um den Kindern ihre Aussage zu erleichtern und um der Therapie ihren Weg zu ebnen, schreibt Jagielski, bekam jedes von ihnen eine Liste mit Fragen vorgelegt:
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Musstest du einen von deinen Verwandten oder Nachbarn töten? Musstest du Menschen mit der Machete Arme oder Beine abhacken? Musstest du Menschen die Augen ausstechen? Musstest du Frauen vergewaltigen? Musstest du Menschen bei lebendigem Leib verbrennen? Auf die meisten der Fragen lautete die Antwort "Ja".
Historische Rückblenden
In geschickt montierten historischen Rückblenden zeichnet Wojciech Jagielski die kriegerische Geschichte der Acholi wie auch der ugandischen Politik seit der Unabhängigkeit von Großbritannen nach. Fundierte historische Abrisse über das Regime grausamer Herrscher wie Milton Obote und natürlich Idi Amin, aber auch profunde Analysen der Politik des heutigen Langzeitpräsidenten Yoweri Muséveni unterbrechen die spannenden Reportage-Teile.
Gekonnt fügt Jagielski ethnografische und deskriptive Puzzlesteine zu einem Ganzen, das die heutige politische Situation in der "Perle Afrikas", wie Winston Churchill Uganda einst nannte, verständlich macht.
Verratene politische Motive
Der Autor zeichnet auch ein genaues Bild des selbst aus dem Acholi-Land stammenden Rebellenführers Joseph Konys. Der mythenumrankte Chef der Brutalo-Gottes-Armee sieht sich als Geistermedium und hat seine Machtbasis auf Spiritualität und Heilfähigkeiten errichtet.
Zu Beginn der Bewegung Anfang der 1980er Jahre gab es noch, wenn auch vage, politische Motive wie Bildung für alle oder Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit. Ziel war eine neue Gesellschaft, gestützt auf die zehn Gebote. Da sich die Lord's Resistance Army jedoch im Kampf gegen die Regierungsarmee vor allem auf Gräueltaten an der Zivilbevölkerung konzentrierte, geriet jedes politische Anliegen der Lord's Resistance Army in Norduganda, der Demokratischen Republik Kongo, dem Südsudan und inzwischen auch in der Zentralafrikanischen Republik in den Hintergrund.
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Die Lord's Resistance Army war wahrscheinlich das einzige Kinderheer der Welt und vielleicht der ganzen Menschheitsgeschichte, das Krieg gegen Erwachsene führte und Verbrechen und Grausamkeiten beging, zu denen selbst diese nicht fähig gewesen wären. Im Acholiland glichen sich die Opfer an ihre Verfolger an, wurden selbst zu Tätern, suchten sofort nach neuen Opfern für sich selbst. Indem sie den Fluch, der sie getroffen hatte, an andere weitergaben, versuchten sie seine zerstörerische Macht zu brechen.
Service
Wojciech Jagielski, "Wanderer der Nacht", Aus dem Polnischen übersetzt von Lisa Palmes, Transit Buchverlag
Transit Verlag - Wanderer der Nacht