Die Grenzen im Kopf überwinden
Kurt Langbein über Grenzfälle
"Ich bin ein Erzähler, der es gelernt hat, Emotionen, Geschehnisse und Menschen auf ein Bildformat zu bannen und den Ton dazu aufzunehmen, und wenn das halbwegs gelingt, dann macht sich in mir eine tiefe innere Freude breit, das ist ganz schön."
27. April 2017, 15:40
Er sei nicht so vermessen, das, was er mache, Kunst zu nennen, sagt der Filmemacher Kurt Langbein, seine Arbeit sei eher eine Verdichtung von Realität und Emotion, und diese könne im glücklichsten Fall etwas bewegen und gewisse Dinge zum Besseren verändern.
Kurt Langbein, Journalist
Die persönlichen Grenzen verschieben
Klassiker "Bittere Pillen"
Seine Wirkungskraft hat Kurt Langbein freilich längst bewiesen, als er in den 1980er Jahren gemeinsam mit anderen Autoren das zum Klassiker avancierte medizinische Ratgeberbuch "Bittere Pillen" verfasste und damit einiges Aufsehen erregte. Seit damals ist der gelernte Wissenschaftsjournalist von seinem Weg der unbestechlichen Berichterstattung nicht mehr abgewichen.
Grenzüberschreitungen
Vergangenes Jahr produzierte Kurt Langbein für die ORF-Sendung "Kreuz und quer" einen Film über Altruismus und Gier - ein Lehrstück über die gegenwärtige Zeit, das die Grundmuster der menschlichen Verhaltensweisen dokumentiert. Aber auch die neuesten Forschungen über die gern unterschätzte Intelligenz der Tiere machte Kurt Langbein bereits zum Thema einer Dokumentation.
Am Sonntag, 29. April 2012, wird er beim Linzer Filmfestival Crossing Europe seinen Film "Grenzfälle" präsentieren, der im Mai auch im Kino zu sehen sein wird. Der Schriftsteller Robert Menasse führt darin an die Grenzen Europas - und zu Menschen, die sie überwanden.
"Die Grenzen sind auch Grenzen im Kopf, und die 'Grenzfälle' sind auch Überwindungen von Grenzen. Es gibt sehr berührende und schöne Beiträge, zum Beispiel über die Tochter eines Fluchthelfers in Vorarlberg, der geholfen hat, dass viele Juden in der NS-Zeit über die Grenze in die Schweiz geflüchtet sind. Leider hat die Schweiz dann die Juden, die nicht gut zahlen konnten, wieder zurückgeschickt, die sind dann im KZ umgekommen. Ein anderer Fall ist ein ungarischer Grenzoffizier, der im richtigen Augenblick, als nämlich Hunderte Flüchtlinge aus der DDR am Ende des Eisernen Vorhangs über die Grenze kamen; da hat er seine Grenze umdefiniert, indem er den Befehl gegeben hat, nichts zu tun. Also eine Grenzüberschreitung, die Symbolkraft hat. Es gibt einzelne Situationen, wo Menschen etwas bewirken können, das beschäftigt mich sehr. Ich versuche, auch meine Grenzen immer wieder zu verschieben und möglichst Sinnhaftes zu tun."
"Wuchtige" Emotionen
Vor nicht allzu langer Zeit verschob Kurt Langbein tatsächlich - unfreiwillig - seine persönlichen Grenzen: Der Autor der "Bitteren Pillen" erhielt von Ärzten die wohl bitterste Diagnose: Langbein war an Krebs erkrankt, und sein bisheriges Lebenskonzept geriet ins Wanken. Erst als er seine Situation in Worte fasste, wurde sie für ihn auch tatsächlich fassbar, "weil ich stumm vor unglaublich wuchtigen Emotionen gestanden bin: vor Angst und Entsetzen. Ich habe erst über das Schreiben Worte für diese Emotionen gefunden, das war auch eine Grenzüberschreitung, weil ich bis dahin noch nie persönlich über mich geschrieben hatte. Und es war eine Grenzüberschreitung, weil ich gelernt habe, meine Emotionen liebevoller zu betrachten und mit ihnen offener umzugehen. Schließlich war es eine Grenzüberschreitung, weil sie mich zur Grenze des Lebens gebracht hat: Ich habe den Tod emotional durchempfinden müssen, um die Angst zu überwinden. Ich habe jetzt viel weniger Angst vor dem Sterben."
"Radieschen von oben" heißt das soeben bei ecowin erschienene Buch, in dem Kurt Langbein seine Erfahrungen mit Darm- und Prostatakrebs schildert und auch von der Überwindung der beiden Krankheiten erzählt.
Fast zeitgleich ist übrigens noch ein Buch über eine Grenzerfahrung in Langbeins Familie erschienen. Die Biografie "Zeitlebens konsequent" von Brigitte Halbmayr, die die Lebensgeschichte von Hermann Langbein, erzählt. Kurt Langbeins Vater, gestorben in den 1990er Jahren, war Überlebender, Zeitzeuge und Chronist von Ausschwitz. Im Gegensatz zum Sohn, der sich seinen Empfindungen stellte und dadurch zu seiner Heilung beitrug, musste der Vater seine Emotionen radikal unterdrücken, um überleben zu können. "Der ist vor ganz anderen Grenzen gestanden, nämlich im KZ im Bürgerkrieg als Widerständler und dann vor den Grenzen der Ignoranz und des Vergessen-wollens."
Menschen hinterlassen Spuren
Kurt Langbein hat nach der Überwindung seiner Krankheit Konsequenzen für sein Leben gezogen; die Frage nach einem möglichen Sinn ist für ihn beantwortet: "Ich glaube nicht an Gott, ich glaube nicht an Wiedergeburt, aber ich glaube an Spuren, die Menschen im Sinn von sinnhaftem Tun hinterlassen können, und das ist mir ein tiefes inneres Anliegen."
Manchmal geht es auch ganz ohne harte Arbeit und ohne Überwindung von Widerständen: Es sind seltene Momente, da lasse er sich einfach treiben - und sämtliche Grenzen öffnen sich, erzählt der Autor und Filmemacher Kurt Langbein.