Roman von Philippe Grimbert
Ein besonderer Junge
"Dieser graue Badeort außerhalb der Saison im Norden Frankreichs, und dieser Junge, zu dem mich die Kinder inspiriert haben, mit denen ich mich jede Woche befasse, all das hat mich dazu gebracht, eine Geschichte zu schreiben, in der sich ein junger Mann mit einem besonderen Jungen beschäftigt, außerhalb der Saison und außerhalb der Zeit", so der Autor.
8. April 2017, 21:58
Ein trister Badeort, ein Student, der mit seinem Leben nichts Rechtes anzufangen weiß, und ein psychisch schwerkranker Jugendlicher mit außergewöhnlichen Fähigkeiten: Daraus hat der Psychoanalytiker und Autor Philippe Grimbert seinen Roman mit dem Titel "Ein besonderer Junge" gestrickt.
Betreuungsperson gesucht
Louis versucht sich an der Universität seit Jahren ohne rechte Lust in verschiedenen Disziplinen - das seinem Vater zuliebe begonnene Jurastudium interessiert ihn nicht, er weiß schon jetzt, dass er es nicht abschließen wird. Dann entdeckt er am Schwarzen Brett eine Anzeige: Ein Mann sucht eine Betreuungsperson für seinen Sohn in Horville, jenem Badeort, in dem Louis als Kind die Ferien verbrachte.
Nicht nur der Ort zieht Louis magisch an, sondern auch die Tatsache, dass der Verfasser der Anzeige von einem "besonderen Jungen" spricht, den es zu betreuen gilt. Louis' Eltern bezeichnen ihren eigenbrötlerischen und menschenscheuen Sohn ebenfalls als "besonderen Jungen", und all das gibt den Ausschlag: Louis bewirbt sich, bekommt die Stelle und findet sich bald in Horville wieder - freilich einem verlassenen Horville außerhalb der Saison, kühl, grau und einsam. Hier lebt Helena mit ihrem Sohn Iannis, den Louis beaufsichtigen soll.
"Viele Eigenschaften, die ich diesem Jungen zugeschrieben habe, stammen tatsächlich von drei oder vier Kindern, die ich kenne", sagt Grimbert. "Vor allem von einem, der mich sehr bewegt hat, mit seiner Angewohnheit, Spuren im feuchten Beschlag an den Fensterscheiben oder im Sand zu hinterlassen, um zu zeigen, dass er schreiben kann, kurzlebige Spuren, die wenig später wieder verschwunden sind, ohne dass etwas von ihnen bleibt."
Verstörender Junge
Iannis ist tatsächlich einzigartig: Der berückend schöne Sechzehnjährige kann gleichzeitig zärtlich und grausam sein, Abweichungen von seinem gewohnten Tagesablauf machen ihn nervös, er fürchtet die Dusche und reagiert entsetzt auf den Anblick von gebratenem Fleisch, er kann Tobsuchtsanfälle bekommen und Minuten später liebebedürftig und anschmiegsam sein.
Philippe Grimbert beschreibt eine Form des Autismus, freilich ohne Iannis' Krankheit im Roman explizit zu benennen: "Ich möchte nicht, dass man es als Buch des Psychoanalytikers Philippe Grimbert über Autismus liest. Ich wollte, im Gegenteil, dass dieser kranke Junge, der stark einem Autisten ähnelt, einerseits verstörend ist, andererseits nicht als Vehikel meiner theoretischen Kenntnissen fungiert."
Zwischen Louis und Iannis entwickelt sich bald eine starke Bindung, eine gegenseitige Zuneigung, die sich der Student selbst nicht recht erklären kann. Iannis scheint die unheimliche Fähigkeit zu besitzen, Louis' Gedanken zu lesen. Wie sonst sollte er von Antoine wissen, Louis' bestem Freund in den Kindertagen in Horville? Und warum ist er so fasziniert von dem verlassenen, überwucherten Park, in dem Louis und Antoine im Sommer heimlich spielten?
Sexuelle Komponente
Auch Iannis' Mutter macht Louis zu schaffen: Ihre Gefühle für ihren Sohn schwanken zwischen Liebe und heftiger Abneigung, und bald wird zudem klar, dass sie es darauf angelegt hat, Louis zu verführen.
"Ich mag die Idee, dass Louis auf eine gewisse Art von Iannis psychisch und von der Mutter psychisch vergewaltigt wird", so Grimbert. "Helena darf nicht einfach nur eine zärtliche Mutter sein, fürsorglich gegenüber ihrem autistischen Kind, sie muss gleichzeitig eine leidenschaftliche Liebe zu diesem Jungen hegen und dann wieder pure Ablehnung für ihn empfinden. Sie muss auch gegenüber dem jungen Studenten in einer übersteigerten Verführungssituation eine maskuline Haltung einnehmen, was für ihn peinlich ist. Ich fand es interessant, auf der Romanebene die normale Situation umzudrehen, in der ein Mann eine Frau umwirbt, die sich verweigert. Hier will eine ältere, betörende und gleichzeitig beunruhigende Frau einen jungen Mann erobern, der sich verweigert."
Menschliche Menschen
In einer wunderschönen, leicht schwebenden Prosa versetzt Philippe Grimbert den Leser in die fast verzauberte Atmosphäre des verlassenen und vor sich hindämmernden Badeortes und skizziert mit großem Feingefühl die psychologischen Strukturen seiner Figuren. Seine zwei Berufe als Autor und Psychoanalytiker spielen dabei perfekt zusammen.
"Das sind zwei Tätigkeitsfelder, die sich für mich harmonisch ergänzen", meint Grimbert. "Einerseits höre ich meinen Patienten zu, wenn sie mir die Geschichten ihres Lebens und ihrer Ängste erzählen, andererseits entwickle ich auf dem Papier die Geschichten des Lebens und der Ängste meiner erfundenen Figuren. Ich verwende natürlich niemals die Geschichten meiner Patienten, auch wenn es oft eine große Versuchung ist. Ich beschreibe gern den Schwächling, der sich hinter der Maske des Helden versteckt und umgekehrt den Helden, der sich hinter der Fassade des Schwächlings verschanzt, die Niederlagen, die Verletzungen, die Widersprüche, all das, was die Menschen meiner Meinung nach menschlich macht."
Der Spiegel unserer selbst
Nur einen Monat verbringt Louis in Horville, aber dieser Monat verändert ihn, vertreibt seine Ängste und bändigt die Gespenster seiner Vergangenheit. Philippe Grimbert hat einen zauberhaften Roman geschrieben, einen fesselnden und tiefgründigen Roman, in dem es nicht zuletzt um die Frage geht, wie wir uns in anderen spiegeln und was uns das über uns selbst erzählen kann.
"Ich wollte mit 'Ein besonderer Junge' zeigen, wie gewisse Unterschiede zunächst abschrecken und Angst machen können", so Grimbert. "Man sieht im anderen etwas, das in uns existiert und das wir auf andere übertragen, jenen Teil von uns, der uns unerträglich ist. Iannis verkörpert das absolut Andersartige. Wenn wir das ablehnen, weil es uns Angst macht und schaudern lässt, dann deshalb, weil es ein Bild unserer selbst ist, das wir nicht sehen wollen."
Service
Philippe Grimbert, "Ein besonderer Junge", aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller, DTV
DTV - Ein besonderer Junge