Kurdenprotest: Hungerstreiks weiten sich aus
Seit 64 Tagen sind über 600 kurdische Häftlinge in der Türkei im Hungerstreik und der Konflikt spitzt sich immer weiter zu. Während Ministerpräsident Erdogan von einer 'Show' spricht, schließen sich immer mehr kurdische Politiker den Streikenden an. In vielen türkischen Städten haben Angehörige und Freunde der Streikenden ebenfalls aus Protest aufgehört, Nahrung zu sich zu nehmen.
8. April 2017, 21:58
Mittagsjournal, 14.11.2012
Auch Verwandte schließen sich an
Unter welcher großen Spannung der Südosten der Türkei in diesen Tagen steht, ist in Istanbul kaum zu bemerken. Es sei denn man begibt sich in eines der kurdischen Viertel der Millionenstadt. Nach Okmeydani zum Beispiel. Zahlreiche Polizeiposten und Panzerwägen muss man passieren, um zu den Hungerstreikenden zu kommen. In einem Park haben sie ein weißes Zelt aufgeschlagen. Drinnen liegen ein paar Männer, die starr vor sich hinschauen. Alte Frauen mit weißen Kopftüchern sitzen zusammengekauert daneben. Draußen vor dem Zelt stehen junge Frauen und Männer herum und wärmen sich an einem kleinen Holzofen. Sie alle haben zu essen aufgehört, um ihre Verwandten zu unterstützen, die im Gefängnis hungern.
Evindar Taifur ist wegen ihres Cousins da, der seit 57 Tagen in Ankara im Hungerstreik ist. Auch ihr Bruder, der in Paris lebt, hat sich dem Protest angeschlossen. Seit 10 Tagen hat auch Evindar nichts mehr gegessen. Es gehe nicht nur um die eigenen Angehörigen, sagt sie, sondern um
Forderungen, die alle Kurden betreffen. Wie die Zulassung von Schulunterricht auf Kurdisch und die Möglichkeit vor türkischen Gerichten auf Kurdisch zu verteidigen.
Initiative für Öcalan
In dem letzten Punkt ist die türkische Regierung dabei, den Kurden entgegen zu kommen. Im Parlament wird über ein Gesetz beraten, das Kurdisch vor Gericht möglich machen soll. Doch die Streikenden sehen darin nur ein Täuschungsmanöver. Vor allem weil Ministerpräsident Erdogan keine
Gelegenheit auslässt, um die Hungerstreikenden öffentlich lächerlich zu machen.
Noch dazu wollen die Streikenden von einer Forderung auf keinen Fall abrücken. Der seit 13 Jahren inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan soll
wieder Besucher empfangen dürfen: Das kurdische Volk will dass unser Führer wieder kommunizieren darf!
Neue Verhandlungen gefordert
Yildirim Beyazit ist vor kurzem aus Deutschland zurückgekehrt. Als junger Mann hat auch er fünf Jahre im Gefängnis verbracht, wegen kurdischer und
kommunistischer Propaganda, wie es hieß. Das war Anfang der 80-Jahre. Nach seiner Freilassung wurde er ausgebürgert und hat seither in Europa gelebt.
Doch jetzt will er aus nächster Nähe erleben, wie die Kurden der Türkei ihre langjährigen Forderungen Schritt für Schritt durchsetzen. Die Geheimverhandlungen von Oslo zwischen der türkischen Regierung und der PKK, die vor einem Jahr unterbrochen wurden, müssen wieder aufgenommen werden, sagt Yildirim Beyazit: Wir wollen dass die Oslo-Verhandlungen wieder fortgesetzt werden. Wir Kurden wollen keinen Krieg mehr!
Durchbruch nicht zu erwarten
Dass Abdullah Öcalan, der legendäre PKK-Führer, Hafterleichterungen bekommt oder seine Strafe sogar in Hausarrest umgewandelt wird, wie viele Kurden fordern, damit ist wohl nicht zu rechnen. Der türkische Regierungschef hat sogar damit gedroht, die Todesstrafe wieder einzuführen
und dabei auf Öcalan angespielt. Der war ja bereits zum Tode verurteilt, bevor die Todesstrafe – auf Druck der EU – abgeschafft wurde.
Aber nur mit starken Sprüchen und militärischem Großeinsatz gegen die PKK wird das kurdische Problem nicht zu lösen sein. Das gestehen auch Politiker des Regierungslagers zu. Besonders im Südosten bekommt die PKK immer mehr Zulauf von Jugendlichen. Es sind Jugendliche wie Mehmet Kilic, der mit 18 eine 30jährige Haftstrafe ausgefasst hat. Er hatte ein paar noch Jüngere dazu angestiftet, aus Protest gegen die türkische Regierung Autos in Brand zu stecken. Auch der 18-Jährige sei seit 31 Tagen im Hungerstreik, erzählt sein Bruder. Öcalan hat uns allen gezeigt, wie man aufrecht geht und für seine Sache
Eintritt. Das hat uns geprägt. Die kurdischen Kinder von heute würden schon früh politische Erfahrungen machen und lernen, vor der Polizei keine Angst zu haben. Sie hätten wenig zu verlieren.
Was die Hungerstreikenden allerdings bald verlieren könnten, ist die Kontrolle über ihre Körper. Schon nach 50 Tagen können irreparable Schäden auftreten. Mehr als 600 Häftlinge sind jetzt schon bald 70 Tage ohne feste Nahrung.