Toby Lester und Leonardos Vitruvianischer Mensch

Die Symmetrie der Welt

Seit Toby Lester sein Buch über Leonardo da Vincis Zeichnung des Vitruvianischen Menschen geschrieben hat, kann er sich der Souvenirs nicht erwehren.

"Leute schicken mir alles Mögliche", erzählt Toby Lester. "Kürzlich hat mir jemand eine Postkarte mit dem Vitruvianischen Menschen in getupften Boxer-Shorts geschickt. Ich habe mittlerweile eine Vitruvianische Souvernirsammlung. Nur ein Vitruvianisches Kaffee-Häferl habe ich noch nicht. Sobald man sich ein bisschen bewusst umsieht, sieht man dieses Motiv überall."

Und in der Tat: Man sieht den nackten Mann mit den ausgestreckten Armen in Kreis und Quadrat beispielsweise auf der italienischen Euromünze, auf einem Raumanzug von NASA-Astronauten, auf T-Shirts, als Motiv in Dan Browns Reißer "The Da Vinci Code", zu Deutsch "Sakrileg".

Proportionen von Vitruvius beschrieben

Leonardo da Vincis Zeichnung von den idealen Proportionen stammt von 1490. Doch so berühmt und häufig reproduziert ist sie erst seit etwas mehr als einem halben Jahrhundert.

"So wie die meisten Leute dachte auch ich, dass die Zeichnung schon seit der Renaissance diesen ikonenhaften Charakter hatte", sagt Lester. "Doch das stimmt nicht: Zu Leonardos Lebzeiten gab es dazu nur ein oder zwei Anmerkungen. Und dann war die Zeichnung über Jahrhunderte so gut wie vergessen. Die nächste Erwähnung nach der Renaissance findet man erst 1771: einen Vermerk, dass sie sich in einer Privatsammlung befindet. Und dann schrieb der Kunsthistoriker Kenneth Clark in den 1950er Jahren das Buch, 'The Nude. A Study in Ideal Form', und darin kam die Zeichnung vor. Das Buch wurde ein Bestseller, und die Zeichnung kennt seither jeder."

Kenneth Clark hatte den Vitruvianischen Mann zwar berühmt gemacht. Doch darüber, warum Leonardo die Zeichnung gemacht oder ob sie für ihn eine bestimmte Bedeutung hatte, wusste man dennoch nichts. Seit etwa 200 Jahren ist sie im Besitz der Galleria dell'Accademia in Venedig. Ausgestellt wird sie nur ganz selten.

"Bei der Zeichnung handelt es sich um ein einzelnes Blatt", erklärt Lester. "Sie gehört also nicht zu seinen berühmten Notizbüchern. Es gibt keine Entstehungsgeschichte dazu, wie wir sie von anderen Zeichnungen oder auch den Gemälden von Leonardo da Vinci kennen. Wir können uns nur an das Offensichtliche halten, was nämlich auf dem Blatt geschrieben steht. Da steht, in Leonardos Spiegelschrift, dass er die idealen menschlichen Proportionen darstelle, wie sie der römische Architekt Vitruvius beschrieben hat."

Perfekte Form für das Himmlische

Vitruvius war ein berühmter römischen Ingenieur und Architekt. Er verfasste, was man nach damaligen Maßstäben ein Monumentalwerk nennen muss: nämlich zehn Bände über Architektur und Baukunst. Er widmete sein Opus, "De Architectura libri decem", dem Kaiser Augustus. Im Zentrum stehen die idealen Proportionen, eine Obsession der alten Griechen wie der Römer, dDenn diese glaubten: Ohne ideale Proportionen gebe es keine Harmonie mit dem Kosmos.

"Der Gedanke war also: Wenn man die idealen Proportionen, die das ganze Universum bestimmen, im Kleinen in den Gebäuden übernimmt, dann kann man einen kosmisch harmonischen Lebensraum schaffen", so Lester. "Das riesige Universum zu verstehen war jedoch nicht möglich. Aber: Schon in der Antike wurde der menschliche Körper als Mikrokosmus betrachtet. Also als Universum in Miniaturausgabe. Das heißt: Wenn man den menschlichen Körper studiert, gelangt man zu den idealen architektonischen Proportionen. Und genau das sagt Vitruvius unter anderem in seinem Buch: Vom menschlichen Körper kann man einen Kreis ableiten - die perfekte Form für das Himmlische. Und man kann auch das Quadrat ableiten - als Symbol für das Irdische."

Mikrokosmos Mensch

Der Gedanke vom Menschen als Mikrokosmos spukte durch das ganze Mittelalter. Dabei ging es nicht nur um die Proportionen, sondern auch um die Zusammensetzung der Körpers. Dass er also aus Elementen besteht, die das Universum ausmachen, wie zum Beispiel Wasser in Form von Blut. Oder Erde in Form von Gewebe; Luft in Form von Atem. Es gab auch Darstellungen über den Menschen als Mikrokosmus, die Leonardos Vertruvianischem Mann ähnlich sind. Die berühmte Mystikerin Hildegard von Bingen muss mit diesen Vorstellungen vertraut gewesen sein.

"Sie verstand die Prinzipien der Architektur auf eine Art und Weise, die klar macht: Sie musste Viturvius Werk gekannt haben", meint Lester. "Dessen Texte überlebten ja großteils deshalb, weil deutsche Mönche sie kopiert hatten. Hildegard von Bingen hatte Visionen, die sie ausführlich beschrieb und illustrierte. Und einige dieser Visionen sehen aus wie der Vitruvianische Mann. Und aus ihrer Beschreibung geht auch hervor: Sie dachte über diese Dinge nach."

Studien über die menschliche Bewegung

Es ist anzunehmen, dass Leonardo mit Vitruvius sowie mit dem intellektuellen Konzept des Menschen als Mikrokosmos vertraut war. Doch vielleicht stand hinter der Zeichnung eine viel simplere Absicht, spekuliert Toby Lester:

"Aus den 1490er Jahren gibt es ein paar Hinweise, dass er einen ganzen Band oder zumindest mehrere Studien über die menschliche Bewegung fertiggestellt hat. Und in gewisser Weise kann man den Vitruvianischem Mann als Bewegungsstudie betrachten: Zwei Paar Arme, zwei Paar Beine; und es sieht fast so aus, als würde er fliegen. In der New Yorker Morgan Library gibt es eine Sammlung von Zeichnungen. Bei einigen handelt es sich um Kopien bekannter Leonardo-Zeichnungen; bei anderen wissen wir das nicht so genau, aber sie sehen dem Vitruvianischen Menschen recht ähnlich. Vielleicht hat Leonardo eine ganze Serie von diesen Zeichnungen angefertigt und nur diese eine aus einem bestimmten Grund aufgehoben."

Vitruvius Schriften über Architektur blieben weiterhin einflussreich. Seine Überlegungen zum menschlichen Körper als das irdische Beispiel für die himmlischen idealen Proportionen überlebten freilich die Renaissance nicht. Zur Abkehr von einem unrealistischen Ideal trug auch Leonardo da Vinci selbst bei. Denn nach seinem Vitruvianischen Menschen begann er mit dem Sezieren von Leichen. Die daraus entstanden naturalistischen, anatomischen Studien kann man auch heute noch als bahnbrechend bezeichnen.

Service

Toby Lester, "Die Symmetrie der Welt. Leonardo da Vinci und das Geheimnis seiner berühmtesten Zeichnung", aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Binder und Bernd Leineweber, Berlin Verlag

Berlin Verlag - Die Symmetrie der Welt