El Baradei: Hoffen auf Wahlsieg der Liberalen

Die Ägypter stimmen heute über einen kontroversen Verfassungsentwurf ab. Auch bei dieser Abstimmung wird eine Mehrheit für den Entwurf der Islamisten erwartet. ORF-Nahost-Korrespondent Karim El-Gawhary hat sich mit dem Oppositionsführer Muhammad El-Baradei zu einem exklusiven Interview in Kairo getroffen.

Morgenjournal, 22.12.2012

Zweifel an Legitimität der Verfassung

Noch in der Nacht dauerten in Alexandria die gewalttätigen Auseinandersetzungen um das umstrittene Verfassungsreferendum in Ägypten an. Heute wird die zweite Hälfte der ägyptischen Provinzen über den kontroversen Entwurf abstimmen. In der ersten Runde letzten Samstag hatten nach inoffiziellen Angaben 56 Prozent für und 43 Prozent dagegen gestimmt.

Muhammad El Baradei, der ehemalige Chef der Atomenergiebehörde in Wien, ist heute einer der wichtigsten Oppositionspolitiker Ägyptens. In einem exklusiven Interview mit dem ORF bezweifelt er die Legitimität einer Verfassung, die so knapp durchgesetzt wird. "Man kann keine Verfassung annehmen, der nur 50 oder 60 Prozent der Menschen zustimmen. Hier geht es um grundsätzliche Werte, wie um die Religions- oder Meinungsfreiheit, die Gewaltenteilung oder die Unabhängigkeit der Justiz", sagt El Baradei.

Liberale sollen "Weg der Revolution korrigieren"

Innerhalb von zwei Monaten nach in Kraft treten der Verfassung muss ein neues Parlament gewählt werden. El Baradei glaubt, dass die Liberalen es bei den kommenden Wahlen schaffen könnten, die Islamisten erstmals an den Urnen zu schlagen. El Baradei erklärt: "Wir können mit Selbstvertrauen sagen, wenn wir Liberale vernünftig zusammenarbeiten und es auch schaffen die Basis zu erreichen, dann können wir im nächsten Parlament die Mehrheit bekommen. Damit könnten wir den Weg der Revolution korrigieren. Wie haben mit dem Verfassungsentwurf wahrscheinlich eine Schlacht verloren, aber ich glaube am Ende werden wir den Krieg gewinnen."

"Ägypten ist doch nicht Bosnien-Herzegowina"

Im Vorfeld des Referendums wurden die politischen Differenzen auf der Straße immer wieder gewalttätig ausgetragen. Es war sogar von der Gefahr eines Bürgerkrieges die Rede. Wie soll es weiter gehen, in diesem politisch geteilten Land? El Baradei betont: "Wir müssen miteinander reden. Wir können nicht so weitermachen. Wir sind doch nicht Bosnien-Herzegowina. Das hier ist Ägypten. Wir haben keine ernsthaften ethnischen oder kulturellen Unterschiede. Diese Polarisierung hier, das ist doch fast krank. Und das über meist fast esoterische Fragen gestritten wird. Wir haben hier eine konservative Gruppierung, die meint, sie könne allen ihre Version des Islam aufdrücken".

Viel Zeit verschwendet

Das Ganze ist ein Prozess, glaubt El Baradei. In der Zeit des Übergangs zur Demokratie sei durch das Militär und die Muslimbrüder schon viel zu viel Zeit verschwendet worden, sagt er. Es gehe darum, die wichtigen Fragen anzugehen. 40 Prozent der Ägypter müssen mit zwei Dollar am Tag auskommen. Die Prioritäten seien die wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Bildung und das Gesundheitswesen, glaubt er. El Baradei ist aber optimistisch: "Alles was ich will ist, sicherzustellen, dass das Land auf dem richtigen Weg kommt. Dann werde ich mit meiner Frau wieder nach Wien gehen und unsere Wohnung in der Hegelgasse genießen."

Wann das sein wird, steht allerdings in den Sternen. Denn die turbulenten Zeiten, die dürften in Ägypten noch eine ganze Weile andauern.